Viele Bürger Deutschlands scheinen resigniert zu haben. Sie glauben nicht daran, ihr eigenes Glück schmieden zu können. Sie nehmen Deutschland als Hartz-IV-Republik und als Absteigerrepublik wahr. Sie empfinden sich als Absteiger, als Ausgeschlossene, ausgeschlossen vom „Wohlstand für alle“, wie ihn Ludwig Erhard versprach, ausgeschlossen vom Aufstieg durch Bildung und Leistung, wie ihn alle Parteien verheißen. Ist das Ideal unseres Landes von einer Leistungsrepublik, ist die von den Parteien propagierte „Chancengesellschaft“ nur eine Fiktion, die die sozial Benachteiligten über ihre Chancenlosigkeit hinwegtäuschen und ruhig stellen soll?
Vierzig Prozent der berufstätigen Bevölkerung und fast 60 Prozent der gering verdienenden Berufstätigen sind überzeugt, dass die sozialen Schichten zementiert sind und sie ihren sozialen Status nicht durch Leistung beeinflussen können1. Allensbach-Chefin Renate Köcher nennt dies „Statusfatalismus“.
Jeder zweite Deutsche glaubt nicht daran, dass Erfolg vor allem aus harter Arbeit resultiert. Jeder vierte Deutsche hält Erfolg in erster Linie für Glücksache und eine Folge der richtigen Beziehungen.
„Das Märchen von der Chancengleichheit“ titelte denn auch ein Wochenmagazin2 und erklärte, warum Herkunft und Beziehungen mehr zählen als Leistung: „Neue Studien enthüllen den Selbstbetrug der Deutschen: Noch immer ist die Elite eine geschlossene Gesellschaft. Eines der wichtigsten politischen Ziele der Nachkriegsgeschichte wurde verfehlt“. Das war 2003. Sechs Jahre später hatte sich der Tenor nicht verändert. „Geschlossene Gesellschaft“ hieß die Headline einer Serie über Deutschland3. Die Magazin-Berichte können sich auf wissenschaftliche Befunde stützen, auf prominente Soziologen wie Professor Michael Hartmann. Der Darmstädter Soziologieprofessor wählte für seine Forschungsergebnisse über die Karrierechancen Promovierter aus verschiedenen sozialen Schichten den ernüchternden Titel: „Der Mythos von den Leistungseliten“4. Er wird in diesem Buch zu Wort kommen.
Ist Aufstieg allein durch Leistung, wenn man von Doping und Wettbetrug absieht, nur im Sport und vielleicht noch in der Wissenschaft möglich? Entscheiden in anderen Gesellschaftsbereichen, vor allem in den Topetagen der Wirtschaft, letztlich doch soziale Herkunft und Habitus, informelle Verhaltenscodes und Beziehungen darüber, wer es nach oben schafft?
Die gefühlte Aufstiegsohnmacht, wie sie sich in den Umfragen spiegelt, hat gravierende Folgen für die Bildungs- und Leistungsbereitschaft in einer Gesellschaft, in der bis weit in die Mittelschichten hinein die Abstiegsängste wachsen. Noch schwerwiegender sind die Folgen dort, wo sich das Gefühl der Ohnmacht zur Gewissheit wandelt. Das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft sinkt seit Jahren5 − und zwar nicht nur, weil die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 sowie die schwere Rezession Zweifel an ihrer Effizienz geweckt haben, sondern weil viele nicht mehr davon überzeugt sind, dass sie eine sozial gerechte Ordnung ist. Eines der wichtigsten Gerechtigkeitsmerkmale ist die glaubhafte Chance, sozial aufsteigen zu können. Die Aufstiegschance hält eine Gesellschaft zusammen, in der die sozialen Gegensätze wachsen. Die Durchlässigkeit des Bildungssystems und die Durchlässigkeit der Gesellschaft entscheiden ganz wesentlich über das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung und in die politische Ordnung. Der Frage, warum die Bundesrepublik diese Bewährungsprobe bei der Erfüllung des Aufstiegsversprechens in den Augen vieler nicht mehr besteht, gehe ich im ersten Teil des Buches nach.
Nicht jeder kann trotz vielfältiger Förderung aufsteigen. Es wird ja auch nicht jeder Olympiasieger oder Fußballweltmeister. Aber jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung und gleiche Startchancen. Und jeder ist der Unternehmer seines Lebens, wie es Abtprimas Notker Wolf formuliert. Gerade eine alternde und schrumpfende Gesellschaft kann es sich nicht leisten, Potenziale ungenutzt oder verkümmern zu lassen. Der demografische Umbruch bringt viele Herausforderungen mit sich. Dass darin auch Chancen zum beruflichen Aufstieg stecken, die der mit dem Wandel einhergehende Fachkräftemangel bietet, wird kaum gesehen. Schlechte Nachrichten sind für viele Medien gute Nachrichten. Sie steigern die Auflage. Aber wenn die guten Nachrichten untergehen und sich die Medien auf Missstände und Probleme fokussieren, trägt das zur Entmutigung der Menschen bei. Viele glauben dann, dass sie wirklich keine Chance haben. Dieses Buch korrigiert diesen Eindruck. Es will dazu beitragen, Statusfatalismus gar nicht erst aufkommen und das Ideal einer Meritokratie, einer „Aufsteigerrepublik“, Wirklichkeit werden zu lassen. Wie könnte dies besser geschehen als durch Vorbilder, die Mut zur Bildung, zur Anstrengung und Leistung machen?
Die in diesem Buch porträtierten Vorbilder sind Aufsteiger. Sie sind entweder im Vergleich zu der Berufs-, Bildungs- oder Einkommensposition der Eltern (Generationenmobilität) aufgestiegen oder haben sich während ihrer Berufslaufbahn nach oben gearbeitet, ihr Einkommen oder ihren Status verbessert (Karrieremobilität). Ich danke allen dafür, dass sie freimütig aus ihrem Leben berichtet haben. So können sich die Leser selbst ein Urteil darüber bilden, ob der Aufstiegspessimismus eines großen Teils der deutschen Gesellschaft berechtigt ist.
Die Aufsteigergeschichten zeigen Menschen, die nicht aufgegeben, sondern an sich und ihre Kräfte geglaubt haben. Es sind Geschichten von Zufallsglück, Ehrgeiz, Einfällen, eisernem Willen, Leistung und großer Beharrlichkeit. Es sind Geschichten über menschliche Kraftwerke mit einer sich wundersam erneuernden Energie. Aufsteiger wissen, was sie können. Ein gesundes Selbstbewusstsein paart sich mit der Fähigkeit der Selbstdarstellung, bei einigen auch mit dem Talent zur Selbstvermarktung. Viele beherrschen die Kunst der Selbstführung, lassen sich von ihren Visionen und Lebensentwürfen leiten, andere optimieren die Zufälle des Lebens zu einer Aufsteigerkarriere. Es sind keine „Success-Stories“, die sich zu einer einzigen Erfolgsformel zusammenziehen lassen. Eine solche Formel gibt es ohnehin nicht. Die Porträts zeigen, wie Menschen auf höchst unterschiedliche Art ihr eigenes Glück geschmiedet und den Aufstieg geschafft haben. Sie könnten mit Frank Sinatra singen „I did it my way“ − mit Selbstvertrauen und kaum zu erschütternder Zuversicht. Auch auf die Gefahr hin, dass es abgedroschen und wenig originell klingt, das Fazit dieser Vorbilder kann nur lauten: „Yes you can!“
Wer tiefe Einblicke in das eigene Leben gestattet, hat das Recht zu bestimmen, was aus seinem Leben berichtet wird. Diesen notwendigen Autorisierungen der Porträts sind einige Szenen voller Dramatik zum Opfer gefallen. So gibt es in diesem Buch angedeutete, aber doch verborgene Geschichten. Das allzu Private und Verborgene hat mich dazu bewogen, mit dem Persönlichkeits- und Motivationsforscher Professor Julius Kuhl ein Gespräch über das Thema zu führen: „Was Aufsteiger antreibt“.
Das Porträt einer Handwerksmeisterin konnte nicht erscheinen. Mein Fremdbild und das Selbstbild der Meisterin unterschieden sich zu sehr. Das ist besonders bedauerlich, weil diese Meisterin mit 37 Jahren zu einer beispiellosen Aufholjagd aufgebrochen ist, einen Betrieb mit nach kurzer Zeit mehr als 70 Beschäftigten gegründet und parallel den Gesellenbrief und Meisterbrief erworben hat, vereidigte Sachverständige, eine renommierte Gutachterin und Mentorin für Unternehmensgründerinnen geworden ist. Die hohe Energieleistung dieser Frau zeigt, welche Kräfte ein starker Aufstiegswille freisetzen kann.
Ein weiteres Vorbild, oder besser, eine Inspirationsquelle für dieses Buch war „Hildegard“ aus Ulla Hahns Entwicklungsroman „Das verborgene Wort“. Darin beschreibt die Autorin, wie sich ihre Heldin von der sozialen, kulturellen und auch mundartlichen Enge ihres Elternhauses emanzipiert.
Die Hildegards von heute kommen häufig aus Zuwandererfamilien. Kann Deutschland ihnen die Chance zur Entfaltung ihrer Talente und Fähigkeiten bieten und sie so zur Bereicherung unserer Gesellschaft werden lassen? Oder trägt unsere Gesellschaft dazu bei, dass sie hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben? Die 16. Shellstudie6 über Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren zeigt, dass die jungen Menschen des Jahres 2010 pragmatisch, leistungsbereit, ehrgeizig und optimistisch sind, aber die soziale Kluft wird immer größer. Jugendliche aus der Ober- und Mittelschicht sind zu 80 Prozent und mehr zufrieden mit ihrem Leben, in den sozial schwierigen Verhältnissen sind es nur 40 Prozent. Von den Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien schaut nur noch jeder dritte seiner Zukunft zuversichtlich entgegen, während insgesamt 59 Prozent optimistisch sind.
Auch haben besonders Frauen immer noch Grund, sich über fehlende Chancengleichheit vor allem in der „Männerwelt“ der Wirtschaft zu beklagen. Einige Aufsteigerinnen lassen sich