Die Frau setzte sich auf einen der speckigen Sessel, während sie die Polizisten irritiert anschaute. „Ist das Ihre Tochter?“ Das Foto zeigte das tote Mädchen vor der Kathedrale. Die Frau starrte auf das Bild, ihre Lippen begannen zu zittern. Erst nach einigen Sekunden nickte sie zaghaft. „Das ist sie!“, stammelte die Frau kaum hörbar. „Es tut mir sehr leid“, meinte van den Berg. Ihm wurde jedes Mal schlecht, wenn er diese Floskel benutzte. Die Polizisten gingen zum Fenster – die Frau sollte einen Moment für sich allein haben. Van den Berg war klar, dass das Überbringen von Todesnachrichten nicht zu seinen Stärken zählte. Er musste sich zusammenreißen, um bei der Befragung nicht allzu schroff rüber zu kommen.
„Ist ihr Mann zu Hause?“, fragte er ruhig. „Er ist was einkaufen. Er kommt sicher bald.“ Während die Metzgerin antwortete, wich sie van den Bergs Blick aus – ihre Augen waren auf ein Hirschgeweih gerichtet, das ihr gegenüber von der Wand herabhing. „Ihre Tochter ist seit fünf Jahren verschwunden gewesen. Wir müssen das leider noch einmal in allen Einzelheiten durchkauen“. „Was bringt das jetzt noch? Das habe ich doch schon tausend Mal erzählt“, murmelte die Frau, so als sprach sie mit sich selbst.
„Wir suchen den Mörder ihrer Tochter. Möchten sie, dass der Typ da draußen noch mehr Mädchen umbringt?“, entfuhr es van den Berg. Im gleichen Moment tat ihm sein gereizter Tonfall schon leid. „Ich habe ihr am Abend noch ein Stück Blutwurst rauf gebracht. Es muss kurz nach sieben gewesen sein. Wir hatten gerade den Laden zugemacht.“ Van den Berg wunderte sich über die präzisen Angaben der Frau zu Alltäglichkeiten, die so lange zurücklagen. „Und weiter?“ „Was soll ich ihnen erzählen? Wir haben nicht viel miteinander gesprochen.“
„Ist sie öfters nachts weggeblieben?“ „Fragen sie besser, wann die mal zu Hause war. Morgens ist sie immer zurück gewesen und hat gearbeitet“, erklärte die Frau mit tonloser Stimme.
„Catherine wäre jetzt 20, richtig?“ „Ja. Sie hat schon immer gemacht, was sie wollte. Ist mir auch egal gewesen. Solange sie nur im Laden mit angepackt hat.“ „Wohin ist sie gegangen, nachts?“ „Woher soll ich das wissen? Meinen sie, darüber hat sie gesprochen?“ In diesem Moment glaubte van den Berg eine Reaktion bemerkt zu haben, ein ganz leichtes Zucken der Mundwinkel, eine kaum merkliche Unsicherheit.
„Haben sie ein Foto von ihr?“ Die Frau nahm einen vergoldeten Bilderrahmen aus der Vitrine. „Wir haben es vor fünf Jahren aufgenommen, kurz bevor sie verschwunden ist. Das Geschäft ist damals 100 Jahre alt geworden“, sagte die Frau, die endlich anfing zu weinen. Einige Minuten hatte sie es geschafft, ihre Gefühle in Schach zu halten – jetzt schienen alle Dämme zu brechen.
„Macht es ihnen etwas aus, uns Catherines Zimmer zu zeigen?“ Die Frau reagierte erst nach einer gefühlten Ewigkeit, dann blickten ihre verheulten Augen zum Kommissar. „Was wollen sie da sehen? Es ist ein einziger Saustall, das kann ich ihnen sagen. Aber wie sie wollen!“ Ihre Stimme hatte sich verändert – sie klang jetzt geradezu energisch.
Zu dritt stiegen sie die morsche Holztreppe in den zweiten Stock des Hauses, das insgesamt einen maroden Eindruck machte. Die Frau hatte nicht übertrieben. Das Zimmer sah alles andere als einladend aus. Auf dem Sofa lagen abgetragene Jeans und Pullover, auf dem Fußboden waren zerrissene Jugendzeitschriften verstreut. Der Tisch war aus Kunststoff und verdreckt, im Zimmer lag ein fauliger Geruch, obwohl die Fenster auf Kippe standen.
Van den Berg wunderte sich darüber, dass die Mutter in den Jahren nicht auf die Idee gekommen war, das Chaos aufzuräumen. Der Kommissar blickte auf den Schreibtisch, der so gar nicht zum Rest der schäbigen Einrichtung passte. Er war aus Teakholz gefertigt und wirkte als einziges Möbelstück im Raum hochwertig. „Hübscher Tisch“, nuschelte der Kommissar. „Ich weiß nicht, woher sie den hat. Irgendwann stand er hier.“
Die Frau strich sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Van den Berg blickte in den Kunststoffspiegel an der hinteren Wand und kontrollierte den Sitz seiner Haare – er stellte fest, dass sie noch immer ein wenig abstanden. „Guck mal hier“, rief Deflandre triumphierend, „ein paar Stadtpläne, da ist einiges eingezeichnet. Scheinen Nachtclubs zu sein.“ „Können wir die mitnehmen?“ Die Frau ignorierte die Frage zuerst, dann machte sie eine Handbewegung, die Zustimmung signalisieren sollte.
Van den Berg hörte, wie unten die Haustür ins Schloss fiel. Er schaute hellwach zu seinem Partner. Pascal Bouvier war nach Hause gekommen. Der Mann sah so aus, wie so viele Metzger, die der Kommissar kennengelernt hatte – kräftig und grob. Der Fleischer entlarvte die Besucher gleich als Polizisten. „Habt ihr meine Tochter endlich gefunden?“, fragte er unwirsch. Van den Berg blickte sein Gegenüber prüfend an. „Wir haben ein totes Mädchen gefunden und nehmen an, dass es sich um ihre Tochter handelt.“ Der Metzger ließ sich wie ein nasser Sack auf das alte, fleckige Wohnzimmersofa fallen.
Der massige Mann weinte hemmungslos, als er das Foto seiner Tochter betrachtete. „Herr Bouvier, ich verstehe, wie ihnen zumute ist. Wir müssen sie allerdings bitten, mit uns zu kommen. Wir müssen Klarheit haben, ob das Mädchen tatsächlich Ihre Tochter ist.“ Der Metzger hörte abrupt auf zu weinen – jetzt schwieg er.
Deflandre wandte sich noch einmal an die Frau, die geistesabwesend auf dem Sofa saß. „Wir hätten gerne noch die Adresse von Catherines Zahnarzt, nur zur Sicherheit.“ Der Blick der Frau war jetzt teilnahmslos, sie verzichtete auf Nachfragen. Die Polizisten sollten einfach nur verschwinden. Die Metzgerin hatte eine Abneigung gegen die Staatsmacht. In diesem Moment wollte sie erst recht keine Schnüffler um sich haben. Die Frau kritzelte eilig etwas auf ein Stück Papier und reichte es dem jungen Polizisten. Deflandre packte noch eine Haarbürste aus dem Kinderzimmer in den Plastikbeutel.
„Bingo!“, flüsterte Deflandre seinem Partner ins Ohr, während der Metzger hinten ins Auto stieg. Wenn van den Berg Opfer identifizieren ließ, wurden normalerweise zunächst zahntechnische Untersuchungen angestellt. Sie hatten gegenüber DNA-Analysen den Vorteil, kostengünstig zu sein. Van den Berg schätzte vor allem, dass er die Ergebnisse deutlich schneller in die Hände bekam. Aber in diesem Fall bekamen sie auch so schnell Gewissheit. Den Zahnarzt würden sie nicht brauchen.
Pascal Bouvier nickte kurz, als er das Gesicht des Mädchens betrachtete. Weinend stürzte sich der Dicke auf das tote Mädchen und legte seine fleischigen Arme um sie. Im gleichen Moment packten ihn die beiden Polizisten an der Jacke und zogen ihn zurück. Sie mussten all ihre Kräfte mobilisieren, um den bulligen Mann stemmen zu können. „Das geht nicht“, rief van den Berg streng. „Herr Bouvier, ihre Tochter hat hier ein sogenanntes Brandmal. Ich nehme an, dass Catherine das vor ihrem Verschwinden noch nicht hatte“, sagte der Kommissar. „Der Fleischer verzog angewidert die Mundwinkel, als er die Stelle betrachtete. „Nein!“ Der Fleischer verlor die Kontrolle. „Das Zeichen enthält eine 8. Gibt es irgendeine Verbindung zwischen Catherine und dieser Zahl?“ „Was weiß ich?“, polterte der Metzger, dem nicht der Sinn danach stand, irgendwelche Bullen-Fragen zu beantworten.
Den Kommissaren war klar, dass sie schlechte Karten hatten. Das Einzige, das sie bislang wussten, war die Identität der Toten. Ihr Name war Catherine Bouvier, daran gab es wenigstens keinerlei Zweifel mehr.
Der öffentliche Druck ging van den Berg bereits gehörig auf die Nerven. Die Massenmedien stürzten sich begierig auf den Fall und bombardierten die Pressestelle des Präsidiums pausenlos mit Anfragen. Wäre es nach van den Berg gegangen, dann hätte er die Ermittlungen ganz allein mit Deflandre geführt. Doch Staatsanwalt Jean Pierre Vermeulen bestand darauf, eine Sonderkommission zu bilden - der öffentliche Druck machte das unumgänglich.
Van den Berg blickte aus seinem Wohnzimmer auf die Kirche, deren Schlichtheit ihn beruhigte, wenn er aufgewühlt war. Aber in diesem Moment konnte