Abenteurer des Schienenstranges. Jack London. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jack London
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171974
Скачать книгу
zweifellos einem Vagabunden, der vermutlich betrunken und wahrscheinlich auf dem Gleise eingeschlafen war.

      Als ein charakteristisches Beispiel, wie ein gewandter Vagabund ›anhängen‹ kann, möchte ich folgende Begebenheit erzählen: Ich war in Ottawa und wollte mit der Kanada-Pazifikbahn nach dem Westen. Eine Fahrt von dreitausend Meilen lag vor mir; es war Herbst, und ich mußte über Manitoba und die Rocky Mountains. Kaltes Wetter war zu erwarten, und der geringste Aufschub hätte die Reise nur noch kälter und beschwerlicher gemacht. Dazu kam, daß ich schlechter Laune war. Die Entfernung zwischen Montreal und Ottawa beträgt hundertundzwanzig Meilen. Das mußte ich wohl wissen, denn ich hatte eben die Strecke zurückgelegt und sechs Tage dazu gebraucht. Durch ein Versehen war ich von der Hauptstrecke abgeirrt und auf eine kleine Seitenlinie gekommen, auf der nur zwei Lokalzüge täglich verkehrten. Und die sechs Tage hatte ich von trockenem Brot gelebt, das ich, nicht einmal reichlich, von den französischen Bauern erbettelt hatte.

      Mein Aerger wuchs noch, weil ich den ganzen Tag, den ich in Ottawa verbrachte, herumlaufen mußte, um mir Kleidung für die lange Reise zu verschaffen. Ich möchte hier einschieben, daß Ottawa mit einer einzigen Ausnahme die Stadt in den Vereinigten Staaten ist, wo es am schwersten ist, sich Kleidung zu erbetteln; die eine Ausnahme ist Washington. Diese schöne Stadt ist der Höhepunkt. Dort verbrachte ich einmal vierzehn Tage mit vergeblichen Versuchen, mir ein Paar Schuhe zu erbetteln, und schließlich mußte ich nach Jersey City reisen, ehe ich sie bekam.

      Doch zurück nach Ottawa. Pünktlich um acht Uhr morgens begann meine Kleiderjagd. Ich arbeitete energisch den ganzen Tag. Ich schwöre, daß ich vierzig Meilen lief. Ich besuchte tausend Hausfrauen und nahm mir nicht einmal die Zeit, um Mittagessen zu fechten. Und um sechs Uhr nachmittags, nach zehn Stunden unablässiger, harter Arbeit, fehlte mir noch ein Hemd, während die Hosen, die ich endlich ergattert hatte, zu eng waren und dazu alle Anzeichen einer baldigen Auflösung trugen.

      Um sechs Uhr stellte ich die Arbeit ein und steuerte auf das Eisenbahngelände los, in der Erwartung, unterwegs etwas zu essen zu bekommen. Aber ich war immer noch vom Unglück verfolgt. In einem Haus nach dem andern wurde ich abgewiesen. Endlich bekam ich ein ›Futterpaket‹. Meine Laune besserte sich gleich, denn es war das größte Futterpaket, das ich je in meinem langen, ereignisvollen Leben gesehen hatte. Es war in Zeitungspapier gewickelt und so groß wie ein ausgewachsener Handkoffer. Ich machte, daß ich auf ein unbebautes Grundstück kam, und öffnete es. Das erste, was ich sah, war Kuchen, immer mehr Kuchen, aller Arten Kuchen und wieder Kuchen. Es war alles Kuchen. Kein Butterbrot mit ordentlichen Fleischstücken – nichts als Kuchen, und ich verabscheute auf der ganzen Welt nichts so sehr wie Kuchen! In einem andern Zeitalter und unter einem andern Himmelsstrich setzte das Volk sich an die Wasser Babylons und weinte. Ich aber setzte mich auf einen Baugrund in der stolzen Hauptstadt Kanadas und weinte ... über einen Berg Kuchen. Wie man das Antlitz eines toten Sohnes betrachtet, so betrachtete ich diese Menge verschiedenen Backwerks. Ich war wohl ein undankbarer Landstreicher, daß ich mich nicht des Überflusses freute, von dem mir eine Familie geschenkt hatte, bei der am Abend zuvor Gesellschaft gewesen war. Den Gästen hatte der Kuchen offenbar auch nicht geschmeckt.

      Dieser Kuchen bezeichnete jedoch den Wendepunkt in meinem Schicksal. Schlimmer konnte es nicht werden: jetzt mußten bessere Zeiten kommen. Und sie kamen denn auch. Im nächsten Hause wurde ich ›hereingebeten‹. Und das ›Hereingebetenwerden‹ ist der Höhepunkt der Glückseligkeit. Man kommt unter Dach und Fach, hat gewöhnlich Gelegenheit, sich zu waschen und an einem richtigen Tische zu essen. Vagabunden lieben es, die Beine unter einen Tisch zu strecken. Das Haus war geräumig und gut eingerichtet und lag inmitten eines großen Gartens mit schönen Bäumen, ein gut Stück von der Straße ab. Man hatte gerade fertig gegessen, und ich wurde ins Speisezimmer geführt – an sich schon etwas höchst Ungewöhnliches, da Vagabunden, die das Glück haben, ›hereingebeten zu werden‹, in der Regel in der Küche essen müssen. Ein grauhaariger, liebenswürdiger Engländer, seine matronenhafte Gattin und eine hübsche, lebhafte junge französische Dame unterhielten mich, während ich aß. Als ich den Bahnhof erreichte, fand ich zu meinem großen Aerger eine Bande von mindestens zwanzig Vagabunden vor, die alle darauf warteten, auf dem ›blinden‹ Güterwagen des Überlandzuges zu fahren. Nun lasse ich mir zwei oder drei Vagabunden auf einem ›Blinden‹ gefallen. Die bemerkt man nicht. Aber zwanzig! Das mußte zu Unannehmlichkeiten führen. Kein Zugpersonal würde uns alle fahren lassen.

      Ich möchte hier gleich erklären, was ein ›Blinder‹ ist. Gewisse Postwagen sind ohne Türen an den Schmalseiten gebaut; daher werden sie blind genannt. Gesetzt nun, ein Vagabund ist, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, auf die Plattform eines blinden Wagens gesprungen, so kann kein Schaffner oder Bremser kommen und das Geld für die Fahrkarte verlangen oder ihn herunterschmeißen. Es ist klar; der Vagabund ist vollkommen sicher, bis der Zug das nächste Mal hält. Dann muß er abspringen, in der Dunkelheit vor den Zug laufen und, wenn er vorbeikommt, wieder auf den ›Blinden‹ springen. Aber es gibt viele Arten, es zu machen, wie wir sehen werden.

      Als der Zug zum Bahnhof hinausfuhr, stürzten sich die Vagabunden auf die drei ›Blinden‹. Einige krochen hinauf, als der Zug noch keine Wagenlänge vom Bahnhof entfernt war. Das waren Anfänger, und ich sah denn auch, wie sie mit größter Schnelligkeit wieder herunterflogen. Selbstverständlich hatte das Zugpersonal aufgepaßt, und als der Zug das erstemal hielt, ging der Spektakel los. Ich sprang ab und lief ein Stück an den Schienen entlang voraus. Ich bemerkte, daß mir mehrere Vagabunden auf den Hacken waren. Sie wußten offenbar gut Bescheid, wie man es machen mußte. Wenn man sich an einen Überlandzug ›anhängen‹ will, muß man an den Haltestellen immer ziemlich weit vorauslaufen. Ich tat es, und allmählich gab einer nach dem andern von denen, die mir folgten, den Wettlauf auf. Aus der Art, wie sie zurückblieben, konnte man auf ihre Gewandtheit und ihren Mut im Aufspringen auf einen Zug schließen.

      Das muß nämlich folgendermaßen gemacht werden: Wenn der Zug sich in Bewegung setzt, fährt der Bremser auf dem ›Blinden‹ zum Bahnhof hinaus. Um zu den andern Wagen zurückzukommen, muß er von dem ›Blinden‹ abspringen und die Plattform eines nichtblinden Wagens entern. Wenn der Zug also die Schnelligkeit erreicht hat, die der Bremser für gut befindet, springt er von dem ›Blinden‹ herunter, läßt ein paar Wagen vorbeifahren und springt dann wieder auf. Und deshalb muß der Vagabund so weit vorauslaufen, daß der Bremser den ›Blinden‹ schon verlassen hat, wenn er aufspringt.

      Ich hatte einen Vorsprung von ungefähr fünfzig Fuß vor dem letzten Vagabunden und wartete nun. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich sah die Laterne des Bremsers auf dem ersten ›Blinden‹. Und ich sah die Dummköpfe verlassen neben dem Gleis stehen, während der ›Blinde‹ vorbeifuhr. Sie versuchten gar nicht erst, hinaufzukommen. Dann kamen, weiter vorn, die Vagabunden, die einigermaßen wußten, was man zu tun hatte. Sie ließen den ersten ›Blinden‹, auf dem der Bremser stand, vorbeifahren und sprangen dann auf den zweiten und dritten. Natürlich sprang der Bremser vom ersten ›Blinden‹ ab und auf den zweiten, und während der Zug weiterfuhr, räumte er auf und warf die Hinaufgesprungenen wieder hinunter. Aber die Hauptsache war, den andern so weit vorauszukommen, daß der Bremser den ersten ›Blinden‹, wenn er bei mir vorbeikam, schon verlassen hatte und sich in einem eifrigen Handgemenge mit den Vagabunden auf dem zweiten ›Blinden‹ befand. Ein halbes Dutzend der geübteren Vagabunden, die weit genug vorausgelaufen waren, gelangte denn auch auf den ersten ›Blinden‹.

      Als wir das erstemal hielten und am Gleis entlang vorliefen, zählte ich nur fünfzehn Vagabunden. Fünf von uns waren ›geflogen‹. Der Ausrottungsprozeß war also gut im Gange und wurde Station auf Station fortgesetzt. Jetzt waren wir vierzehn, dann neun, schließlich acht. Es erinnerte mich an die zehn Negerlein im Kinderlied. Ich war fest entschlossen, das letzte Negerlein zu sein. Und warum auch nicht? War ich nicht mit Kraft, Gewandtheit und Jugend gesegnet? Ich war achtzehn Jahre alt und in glänzender Form. Und Nerven hatte ich auch nicht. War ich nicht zudem ein Vagabund von Gottes Gnaden? Waren die andern nicht die reinen Dummköpfe und Anfänger neben mir? Wenn ich nicht das letzte Negerlein wurde, so konnte ich ebensogut das ganze Spiel aufgeben und mich auf irgendeiner Farm anstellen lassen. Mit der Zeit war unsere Zahl auf vier reduziert worden, und nun begann sich das ganze Zugpersonal dafür zu interessieren, und es wurde ein Kampf zwischen Witz und Gewandtheit, bei dem das Personal natürlich die besseren