Pah! Ich kenne einen Trick, den ich schon an ihm versuchen möchte, und es tut mir ordentlich leid, daß ich es nicht schon in dem Augenblick tat, als er mich packte. Ich könnte ihm einen tüchtigen Denkzettel erteilen, und das gerade, weil er mich am Kragen packt. Er hat die Finger fest in meinen Kragen gekrallt. Mein Rock ist zugeknöpft. Ich weiß nicht, ob ihr je eine Aderpresse gesehen habt. Da habt ihr sie: Ich brauche nur den Kopf unter seinen Arm zu ducken und mich herumzudrehen. Das muß schnell gehen – sehr schnell. Ich weiß schon, wie ich es machen muß – ich muß mich schnell und ruckweise drehen und bei jeder Umdrehung den Kopf unter seinen Arm ducken. Ehe er es weiß, sitzen seine Finger, die mich jetzt festhalten, selbst fest. Er kann sie nicht herausziehen. Es wirkt wie ein kräftiger Hebel. Wenn ich mich zwanzig Sekunden lang gedreht habe, wird ihm das Blut unter den Nägeln hervorspritzen, die feinen Sehnen werden reißen und alle Muskeln und Nerven zerquetscht werden, bis alles eine einzige blutige, schmerzende Masse ist. Versucht es mal, wenn euch jemand am Kragen hat. Aber ihr müßt schnell sein – schnell wie der Blitz. Und ihr müßt euch selber gut halten, während ihr euch herumdreht – das Gesicht mit dem linken, und den Unterleib mit dem rechten Arm schützen. Es könnte ja sein, daß der andere versuchte, euch durch einen Stoß mit seinem freien Arm anzuhalten. Es wäre auch gut, sich von dem freien Arm ab– statt sich ihm zuzudrehen. Ein Stoß in der Richtung der eigenen Bewegung ist nie so schlimm wie umgekehrt.
Der Bremser wird nie erfahren, wie nahe er daran gewesen ist, einen sehr, sehr ernsten Denkzettel zu erhalten. Seine Rettung ist, daß er offenbar nicht die Absicht hat, mir etwas zu tun. Als wir nahe genug sind, ruft er, daß er mich hat, und man gibt das Signal, daß der Zug anfahren soll. Die Lokomotive und die drei ›Blinden‹ fahren vorbei. Dann springen der Schaffner und der zweite Bremser auf. Aber der Mann, der mich am Kragen hält, hat mich immer noch gepackt. Ich weiß ganz genau, was sie wollen. Er soll mich festhalten, bis die letzten Wagen uns erreicht haben. Dann soll er aufspringen, und ich werde zurückgelassen – im Graben. Aber der Zug fährt schnell, denn der Lokomotivführer muß die verlorene Zeit wieder einholen. Es ist auch ein langer Zug. Die Sache ist nicht so einfach, und ich weiß, daß der Bremser die Schnelligkeit des Zuges mit Besorgnis mißt.
»Glaubst du, daß du's machen kannst?« frage ich unschuldig.
Er läßt meinen Kragen los, springt rasch zu und ist auf dem Zuge. Es fehlen noch mehrere Wagen. Das weiß er, und so bleibt er auf dem Trittbrett stehen, streckt den Kopf vor und sieht nach mir aus. In diesem Augenblick wird mir klar, was ich jetzt zu tun habe. Ich will auf die hinterste Plattform springen. Ich weiß, daß der Zug immer schneller und schneller fährt, aber wenn es schief geht, kann ich nur in den Dreck geworfen werden, und ich besitze den ganzen Optimismus der Jugend. Nicht mit einer Miene verrate ich, was ich im Sinne habe. Mutlos und mit hängenden Schultern stehe ich da und zeige, daß ich jede Hoffnung aufgegeben habe. Aber gleichzeitig untersuche ich mit dem Fuße den Kies. Er gibt einen ausgezeichneten Halt. Ich sehe auch nach dem Bremser, der immer noch den Kopf vorstreckt. Jetzt zieht er ihn zurück. Er ist ganz sicher, daß der Zug zu schnell fährt, als daß ich ihn noch erwischen könnte.
Und der Zug fährt wirklich schnell – schneller als je ein Zug, auf den ich es abgesehen hatte. Als der letzte Wagen vorbeifährt, laufe ich in der Fahrtrichtung mit. Es ist ein kurzer, schneller Anlauf. Ich kann nicht hoffen, dieselbe Geschwindigkeit wie der Zug zu erreichen, aber ich kann den Unterschied zwischen meiner und seiner Schnelligkeit auf ein Minimum reduzieren und den Stoß, wenn ich das Trittbrett erreiche, dadurch weniger fühlbar machen. In dem flüchtigen Augenblick kann ich das Geländer der hintersten Plattform in der Dunkelheit nicht sehen; ich habe auch keine Zeit, mich zu orientieren. Ich packe aufs Geratewohl zu, und im selben Augenblick verlieren meine Füße den Boden. Es ist der reine Glückstreffer. Im nächsten Augenblick könnte ich mit gebrochenen Rippen, gebrochenen Armen oder zerschmetterter Hirnschale über den Kies rollen. Aber meine Finger umklammern das Geländer, ein Ruck in meinem Arm, ich werde halb herumgeschleudert, und meine Füße landen mit einer starken Erschütterung auf dem Trittbrett. Ich setze mich nieder und bin sehr stolz. In meiner ganzen Vagabundenzeit ist dies das beste Stück Arbeit, das ich im Aufspringen auf einen Zug je geleistet habe. Ich weiß, daß man in der Nacht auf der letzten Plattform immer sicher ist, jedenfalls für ein paar Stationen, aber ich wage mich nicht zu den vorderen Wagen. Als der Zug das erstemal hält, laufe ich auf der dem Bahnsteig entgegengesetzten Seite an ihm entlang, an den Pullmanwagen vorbei, ducke mich und finde einen Platz unter einem der anderen Wagen. Beim nächsten Aufenthalt laufe ich wieder vor und finde einen neuen Platz.
Jetzt bin ich einigermaßen sicher. Die Bremser glauben, daß ich endgültig geschmissen bin. Aber der lange Tag und die anstrengende Nacht fangen an, ihre Wirkung auszuüben. Da es weder windig noch kalt hier unten ist, nicke ich ein. Das geht nicht. Auf dem Wagengestell einzuschlafen, bedeutet den sichern Tod, und als wir an eine Station kommen, krieche ich daher heraus und gehe zum zweiten ›Blinden‹. Hier kann ich mich hinlegen und schlafen, und hier schlafe ich – wie lange, weiß ich nicht –, bis ich erwache, weil mir jemand eine Laterne vors Gesicht hält. Die beiden Bremser stehen da und starren mich an. Ich springe auf, um mich zu verteidigen, während ich darüber nachdenke, wer von den beiden mich wohl zuerst angreifen wird. Aber sie denken gar nicht daran.
»Ich glaubte, ich hätte dich geschmissen«, sagt der Bremser, der mich am Kragen gehabt hatte.
»Wenn du mich nicht losgelassen hättest, wärst du zusammen mit mir geflogen«, antwortete ich. »Wieso?« fragt er.
»Ich hätte dich festgehalten, das ist alles«, erwidere ich ihm.
Sie beraten sich, und zuletzt kommen sie zu folgendem Ergebnis:
»Na, dann wollen wir dich fahrenlassen, Kamerad! Es hilft ja nichts, daß wir versuchen, euch runterzukriegen.«
Und dann gehen sie ihres Weges und lassen mich bis zu ihrer Zweigstation in Frieden.
Ich habe hier ein Beispiel davon gegeben, was ›anhängen‹ heißt. Selbstverständlich habe ich eine Nacht gewählt, in der meine Bemühungen von Glück gekrönt waren, und nichts von den Nächten – und ihrer sind viele – gesagt, in denen ich Pech hatte und geschmissen wurde.
Zum Schluß möchte ich nur noch erzählen, was geschah, als wir die Zweigstation auf der Strecke erreichten. Auf den eingleisigen Überlandstrecken warten die Güterwagen an der Weiche und folgen dann den Personenzügen. Als ich in die Zweigstation kam, stieg ich ab und sah mich nach dem Güterzuge um, der hinterherfahren sollte. Ich fand ihn, stellte mich an einem Nebengleise auf und wartete. Dann schlüpfte ich in einen geschlossenen Güterwagen, der halb voll Kohlen war, und legte mich nieder. Fast im selben Augenblick war ich eingeschlafen.
Ich erwachte dadurch, daß die Tür zurückgeschoben wurde. Der Tag brach an, kalt und trübe, und der Güterzug war noch nicht abgefahren. Der Schaffner steckte den Kopf zur Tür herein. »Mach', daß du rauskommst, du verfluchter Schlingel!« brüllte er. Das tat ich, und als ich herauskam, sah ich, wie er den Zug entlang ging und jeden Wagen untersuchte. Sobald er außer Sehweite war, sagte ich mir, er würde nie im Leben darauf verfallen, daß ich so frech wäre, wieder in denselben Wagen zu kriechen, aus dem er mich eben herausgejagt hatte. Ich kletterte also ganz ruhig wieder hinein und legte mich schlafen.
Nun muß aber der Schaffner genau so überlegt haben wie ich, denn er dachte sich, daß ich es geradeso machen würde. Folglich kam er zurück und schmiß mich wieder hinaus.
Na, dachte ich bei mir, es wird ihm doch nie in den Sinn kommen, daß ich es zum drittenmal tue. Ich kehrte also zum selben Wagen zurück, beschloß aber,