Abenteurer des Schienenstranges. Jack London. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jack London
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171974
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der Tür muß demütig sein, und so beugte ich mich vor seiner Logik, wie ich mich vor seiner Moral gebeugt hatte.

      »Sehen Sie, ich bin jetzt hungrig«, sagte ich immer noch höflich. »Morgen früh bin ich noch hungriger. Denken Sie sich, wie hungrig ich sein werde, wenn ich einen ganzen Tag Steine geschleppt habe, ohne etwas zu essen zu bekommen. Wenn Sie mir jetzt aber etwas zu essen geben, werde ich morgen ganz anders arbeiten können.«

      Er erwog ernsthaft meinen Einwand, während er gleichzeitig weiter aß und seine eingeschüchterte Frau beinahe ein paar freundliche Worte gesagt hätte, sich aber beherrschte.

      »Ich werde Ihnen sagen, was ich tun will«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Sie kommen morgen früh, und mittags gebe ich Ihnen einen Vorschuß, so daß Sie etwas essen können. Dann kann ich ja sehen, ob Sie es ernst meinen oder nicht.«

      »Aber inzwischen –« begann ich, doch er unterbrach mich.

       »Wenn ich Ihnen jetzt etwas zu essen gäbe, so bekäme ich Sie sicher nie mehr zu sehen. Oh, ich kenne Leute Ihres Schlages. Sehen Sie mich an! Ich schulde keinem Menschen etwas. Ich habe mich nie so weit erniedrigt, daß ich einen Menschen um Essen gebeten hätte. Ich habe mir mein Essen immer redlich verdient. Das schlimme bei Ihnen ist, daß Sie faul und liederlich sind. Das kann ich Ihnen ansehen. Ich habe gearbeitet und bin ein anständiger Mensch. Was ich bin, habe ich mir selbst zu verdanken. Und Sie können es ebenso haben, wenn Sie arbeiten und ein anständiger Mensch sind.«

      »So wie Sie?« fragte ich.

      Ach, nie hatte auch nur ein Funken Humor die düstere, durch Arbeit abgebrühte Seele dieses Menschen erhellt.

      »Ja, wie ich«, antwortete er.

      »Wir alle?« fragte ich.

      »Ja, ihr alle«, entgegnete er mit innerlicher Überzeugung.

      »Aber wenn es uns allen so wie Ihnen ginge«, sagte ich. »so müssen Sie mir schon erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es dann keinen gäbe, der Mauersteine für Sie schleppte«.

      Ich schwöre darauf, daß ein Anflug von Lächeln in den Augen der Frau zu sehen war. Was ihn betrifft, so war er einfach entsetzt – ob aber über die schreckliche Aussicht, daß er bei einer Reform der Menschheit niemand mehr bekommen könnte, der Steine für ihn schleppte, oder über meine Frechheit, das werde ich nie erfahren.

      »Ich will meine Worte nicht an Sie verschwenden«, brüllte er. »Machen Sie, daß Sie wegkommen, Sie undankbarer Lümmel!«

      Ich machte einen Kratzfuß, um ihm meine Absicht, zu gehen, kundzutun, und fragte:

      »Und ich bekomme also nichts zu essen?«

      Er sprang auf. Er war ein großer Kerl. Ich war ein Fremder in einem fremden Lande, und das Auge des Gesetzes suchte nach mir. Ich machte, daß ich fort kam. ›Aber warum undankbar?‹ fragte ich mich, als ich die Gartenpforte hinter mir schloß. ›Was, zum Kuckuck!, hat er mir gegeben, daß ich undankbar sein könnte?‹ Ich blickte mich um. Durchs Fenster konnte ich ihn noch sehen. Er war zu seiner Pastete zurückgekehrt.

      Jetzt hatte ich fast den Mut verloren. Ich ging an vielen Häusern vorbei, ohne mich hineinzuwagen. Alle Häuser sahen gleich aus, aber keines einladend. Nachdem ich ein halbes Dutzend Ecken weitergekommen war, schüttelte ich meine Niedergeschlagenheit ab und nahm mich zusammen. Ich entschloß mich, mein Glück im nächsten Hause zu versuchen. Es begann schon dunkel zu werden, als ich es erreichte und nach hinten an die Küchentür ging.

      Ich klopfte vorsichtig an, und als ich das freundliche Gesicht einer Frau in mittleren Jahren sah, die mir öffnete, fiel mir plötzlich die »Geschichte« ein, die ich ihr erzählen mußte. Denn man muß wissen, daß für einen Bettler viel vom Erzählen einer guten Geschichte abhängt. Vor allem, und zwar im ersten Augenblick, muß der Bettler sein Opfer »abschätzen«. Hierauf muß er eine Geschichte erzählen, die sich nach Persönlichkeit und Temperament des jeweiligen Opfers zu richten hat. Und gerade hier beginnt die Hauptschwierigkeit: Man muß im selben Augenblick das Opfer abschätzen und seine Geschichte anfangen. Man hat nicht eine Minute zur Vorbereitung. Blitzschnell muß man die Eigenart des Opfers erraten und eine Geschichte ausdenken, die Eindruck macht. Der erfolgreiche Landstreicher muß ein Künstler sein. Er muß spontan und ohne sich zu bedenken erfinden – und darf nicht aus dem Überfluß seiner Phantasie schöpfen, sondern aus dem, was er in dem Gesicht der Person liest, die ihm die Tür öffnet, einerlei, ob es Mann, Frau oder Kind, ob das Gesicht freundlich oder mürrisch, freigebig oder geizig, gutmütig oder boshaft, jüdisch oder christlich, schwarz oder weiß, von Rassenvorurteilen geprägt oder von brüderlichem Geist beseelt, von Kurzsichtigkeit oder Weitblick, oder was es sonst sein kann, gezeichnet ist. Ich habe oft gedacht, daß ich meine Erfolge als Schriftsteller der Erfahrung zu verdanken haben muß, die ich in meinen Vagabundentagen gesammelt habe. Um die Nahrung zu erhalten, die ich zum Leben brauchte, war ich genötigt, Geschichten zu erzählen, die wahrscheinlich klangen. Wenn man, von einem unerbittlichen Zwange getrieben, an der Küchentür steht, entwickelt sich die Fähigkeit, zu überzeugen und aufrichtig zu wirken, die von den Kritikern als erste Voraussetzung, gute Erzählungen zu schreiben, betrachtet wird. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß es meine Lehrzeit als Vagabund war, die mich zu einem Realisten gemacht hat. Realismus ist die einzige Ware, die man gegen Nahrungsmittel an der Küchentür eintauschen kann.

      Überhaupt: Kunst ist nur vollendete Kunstfertigkeit, und Kunstfertigkeit hat schon manche ›Geschichte‹ gerettet. Ich weiß noch, wie ich einmal auf einer Polizeistation in Winnipeg (Manitoba) log. Ich wollte mit der Kanada-Pazifikbahn nach dem Westen. Natürlich verlangte die Polizei eine Geschichte, und die erfand ich denn auch – stehenden Fußes. Sie waren Landratten mitten im Festlande, also was konnte ich Besseres tun, als eine Geschichte von der See erzählen? Dabei konnten sie mich nie fangen. Und so erzählte ich ihnen denn eine herzerweichende Geschichte von meinem Leben auf dem Höllenschiff ›Glenmore‹. (Ich hatte die ›Glenmore‹ einmal in San Francisco vor Anker liegen sehen.) Ich wäre englischer Schiffsjunge, sagte ich. Aber da sagten sie, ich spräche nicht wie ein Engländer, und so mußte ich sofort eine neue Geschichte erfinden. Ich wäre in den Vereinigten Staaten geboren und erzogen worden. Dann wären meine Eltern gestorben, und man hätte mich zu meinen Großeltern nach England geschickt. Die hätten mich auf die ›Glenmore‹ gegeben. Ich hoffe, der Kapitän der› Glenmore‹ wird es mir verzeihen, daß ich seinen guten Namen an jenem Abend auf der Polizeistation in Winnipeg angeschwärzt habe. Solche Grausamkeit! Solche Roheit! So teuflisch in der Erfindung von Strafen! Das erklärte, daß ich von der ›Glenmore‹ weggelaufen war, als sie in Montreal lag.

      Aber weshalb ich mich denn mitten in Kanada befände und nach dem Westen wollte, wenn meine Großeltern in England wohnten? Ich erdichtete sofort eine verheiratete Schwester in Kalifornien. Sie würde für mich sorgen. Ich verbreitete mich weitläufig über ihr liebevolles Gemüt. Aber sie waren noch nicht mit mir fertig, diese hartherzigen Polizisten, ich war in England auf die ›Glenmore‹ gekommen; was hatte ich in den beiden Jahren getan, ehe ich weggelaufen war, was hatte die ›Glenmore‹ getan, und wo war sie gewesen? Und so hatte ich mit diesen Landratten eine Reise um die Welt unternommen. Von gewaltigen Seen umhergeworfen, während der Schaum ihnen das Gesicht peitschte, hatten sie mit mir gegen einen Orkan in der japanischen Küste angekämpft. Sie luden und löschten mit mir in allen Häfen der sieben Meere. Ich nahm sie mit nach Indien, Rangoon und China, ließ sie mir das Eis bei Kap Horn aufbrechen, und schließlich vertäuten wir in Montreal.

      Und dann sagten sie, ich sollte einen Augenblick warten, und einer der Polizisten ging in die Nacht hinaus, während ich mich am Ofen wärmte und mir den Kopf darüber zerbrach, was sie mir jetzt für eine Falle stellen würden.

      Ich stöhnte inwendig, als ich ihn auf den Fersen des Polizisten zur Tür hereinkommen sah. Diese winzigen Goldringe in seinen Ohren waren kein Zigeunerschmuck, diese Haut war nicht vom Präriewind zu runzligem Leder verwittert, und nicht Schneegestöber und Bergeshänge hatten seinen Gang so wiegend gemacht. In diesen Augen, die mich jetzt anblickten, sah ich den unverkennbaren Sonnenglanz des Meeres. Ach, das war eine schwere Aufgabe für mich! Hier standen fünf oder sechs Polizisten und sahen mich an – und ich hatte nie das Chinesische Meer befahren, war