Eine lange Weile blieb er ungestört und hatte also gut Zeit, sich sattzuessen. Als er aber die Hände zum Tischgebet faltete, hörte er Schritte auf der Treppe. Es waren schwere, schleppende Schritte; Karl Artur dachte, es sei die Pröpstin, die von seiner Reise hören wollte, und so konnte er nicht davonlaufen, was er freilich am liebsten getan hätte.
Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und es kam jemand herein. Ach, es wäre schon schlimm genug gewesen, wenn die Pröpstin unter der Tür gestanden hätte; aber nein, es war Charlotte! Das war das schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Er war nicht umsonst fünf Jahre mit ihr verlobt gewesen – er kannte sie! Ach, welchen Auftritt würde es nun geben, wenn sie erfuhr, daß die Mutter einen Schlaganfall gehabt hatte! Sie würde ihn abkanzeln. Obgleich er furchtbar müde war, würde er sie stundenlang anhören müssen. In aller Eile beschloß er deshalb, spöttisch höflich gegen sie zu sein, was er ja in der ganzen letzten Zeit schon getan hatte. Das war immer die beste Art, sie in angemessener Entfernung von sich zu halten.
Ehe er aber etwas sagen konnte, war Charlotte schon tiefer ins Zimmer hereingekommen, und die beiden Talglichter auf dem Tische beleuchteten nun hell ihr Gesicht. Und da sah Karl Artur, daß sie ganz verweinte Augen hatte und todesblaß war. Es mußte ihr etwas Furchtbares widerfahren sein.
Das nächstliegende war für ihn, zu denken, sie fühle sich wegen ihrer Heirat tiefunglücklich. Aber andererseits sah es ihr gar nicht ähnlich, das so offen zu zeigen. Und der gewesene Bräutigam war wohl der letzte, dem sie einen Einblick in diese Sache gewährt hätte. Ach ja, ganz richtig! Vor ein paar Tagen hatte Karl Artur gehört, daß Charlottes Schwester, Frau Dr. Romelius, lebensgefährlich erkrankt sei. Nun glaubte er zu verstehen, was eingetroffen war.
Charlotte nahm einen Stuhl und setzte sich an den Eßtisch. Mit einer sonderbar harten und ausdruckslosen Stimme begann sie zu sprechen, so wie man es tut, wenn man sich vorgenommen hat, unter keinen Umständen in Tränen auszubrechen. Sie sah Karl Artur nicht an, man hätte meinen können, sie redet laut mit sich selbst.
»Vor einer Stunde ist Hauptmann Hammarberg hier gewesen«, begann sie. »Er war in Karlstadt und ist heute morgen etwas später als du von dort abgereist. Aber er fuhr mit zwei Pferden und traf viel früher hier ein. Er sagte, er sei auf der Straße an dir vorbeigefahren.«
Karl Artur rückte seinen Stuhl vom Tisch zurück. Wie ein scharfer Stich durchfuhr es ihn vom Kopf bis hinunter ins Herz.
»Als er an der Propstei vorbeifuhr, sah er die Fenster im Studierzimmer noch erleuchtet«, sprach Charlotte ebenso umständlich und eintönig weiter. »Da meinte er, der Propst sei noch nicht zu Bett gegangen. Er stieg aus, denn er konnte sich das Vergnügen nicht versagen, dem Propst zu berichten, wie sich sein Vikar heute in Karlstadt aufgeführt hat. Er erzählt solche Sachen sehr gerne.«
Stich auf Stich fuhr Karl Artur vom Kopf hinab und durchs Herz. Alles, was er den Tag hindurch zusammengelesen und zusammengekittet hatte, war wieder am Auseinanderfallen. Jetzt würde er hören, wie seine Mitmenschen seine Handlungen beurteilten.
»Wir hatten die Haustür nicht geschlossen, weil wir dich jeden Augenblick zurückerwarteten, deshalb konnte er ungestört ins Studierzimmer eintreten. Aber der Oheim war eben zu Bett gegangen, und darum traf er diesen nicht an, sondern mich. Ich saß am Schreibtisch und schrieb Briefe, denn ich hätte nicht an Schlaf denken können, ehe ich gehört hatte, wie es dir in Karlstadt ergangen war. Jetzt erfuhr ich es von Hauptmann Hammarberg, und ich glaube, es war ihm eine größere Freude, es mir berichten zu können, als dem Oheim.«
»Und du, Charlotte, hast ihm natürlich mit nicht geringerem Genuß zugehört«, fiel ihr Karl Artur ins Wort.
Charlotte machte eine leicht abwehrende Bewegung. Dieser kleine Ausfall war keiner Antwort wert. Das war nur etwas, wonach Leute greifen, die in großer Not sind, sich aber trotzdem überlegen zeigen wollen. Sie fuhr in ihrem Bericht fort:
»Hauptmann Hammarberg blieb nicht lange da. Er ging seines Weges, sobald er erzählt hatte, daß du deiner Mutter eine Strafpredigt gehalten habest und sie darauf einen schweren Schlaganfall bekommen habe. Ja, und von deinem Besuch beim Bürgermeister sprach er auch. Ach, Karl Artur, Karl Artur!«
Als Charlotte das alles gesagt hatte, war es aus mit ihrer Beherrschung. Sie drückte das Taschentuch auf die Augen und schluchzte.
Aber nun ist es ja so mit uns Menschen, daß es uns nicht lieb ist, wenn jemand über uns weint. Und ebensowenig erfreut uns der Gedanke, ein anderer habe gerade vorhin einen komischen Bericht darüber gehört, wie dumm und lächerlich wir uns benommen haben. Deshalb konnte Karl Artur die Äußerung nicht unterdrücken, da Charlotte jetzt mit einem anderen verheiratet sei, brauche sie sich seinet- und seiner Familie wegen keinem großen Kummer hinzugeben.
Auch diesen Ausfall würdigte Charlotte keiner Antwort. Es war ja nur natürlich, daß er nach einem Verteidigungsmittel griff. Das war nichts, worüber sie sich zu ärgern brauchte.
Statt dessen kämpfte sie ihre Tränen nieder, um dem Ausdruck verleihen zu können, was sie ihm schon die ganze Zeit hatte sagen wollen.
»Als ich das alles erfuhr, war ich zuerst entschlossen, heut abend nicht mehr mit dir darüber zu sprechen. Du wolltest am liebsten allein sein, das begriff ich. Aber da ist etwas, das ich dir ohne Aufschub sagen muß. Ich werde mich kurz fassen.«
Er zuckte die Schultern und sah ergeben und unglücklich aus. Sie saßen ja hier im selben Zimmer; er war gezwungen, sie anzuhören.
»Ach, alles miteinander ist ja meine Schuld, das mußt du wissen«, sagte Charlotte. »Ich habe ja Thea überredet – deine ganze Karlstädter Reise – ich, ich war's – du wolltest nicht, aber ich wollte – und wenn nun deine Mutter stirbt, so bin ich es und nicht du …«
Sie kam nicht weiter. Sie fühlte sich nur furchtbar unglücklich und schuldbewußt.
»Ich hätte geduldig sein sollen«, fuhr sie fort, sobald sie einigermaßen wieder Herr ihrer Gemütsbewegung und ihrer Sprache geworden war. »Ich hätte dich nicht so rasch hinschicken sollen. Du trugst noch Groll gegen deine Mutter im Herzen, du hattest ihr noch nicht verziehen. Deshalb ging es so, wie es gegangen ist. Aber ich hätte verstehen sollen, daß es so nicht gelingen konnte. Alles, alles, alles ist meine Schuld!«
Zugleich stand sie auf und ging eine Weile im Zimmer auf und ab, wobei ihre Hände ihr Taschentuch zerknüllten. Schließlich blieb sie vor Karl Artur stehen. »Das solltest du wissen, das wollte ich dir sagen. Alles miteinander ist meine Schuld.«
Er erwiderte kein Wort; er streckte nur die Hände aus und ergriff eine der ihren, die er festhielt.
»Charlotte!« sagte er nur sehr leise und mild. »Ach, wie viele Unterredungen haben wir in diesem Zimmer, an diesem Eßtisch miteinander gepflogen. Hier haben wir uns gestritten und uns gescholten, aber hier haben wir auch viele frohe Stunden verlebt. Und jetzt ist es das letztemal!«
Sie stand neben ihm und begriff nicht, was das bedeutete. Er streichelte ihre Hand und sprach freundlicher mit ihr als seit Jahren. »Du bist immer edelmütig gewesen und hast mir helfen wollen. Es gibt keinen so edlen Menschen wie dich, Charlotte.«
Vor lauter Verwunderung war sie verstummt; sie konnte ihm nicht einmal widersprechen.
»Ich habe nur immer deinen Edelmut zurückgewiesen, habe dich nicht verstehen wollen, Charlotte. Und doch kommst du heut abend zu mir und willst alles auf dich nehmen.«
»Ja, aber es ist doch auch so«, entgegnete sie.
»Nein, Charlotte, es ist nicht so. Sag nichts mehr! Meine eigene Selbstgerechtigkeit ist's, meine Härte. Du hast nur das Beste gewollt.«
Er legte den Kopf auf den Tisch und weinte. Aber er ließ ihre Hand nicht los, und sie fühlte, wie seine Tränen darauf tropften.
»Charlotte!« sagte er. »Ich komme mir wie ein Mörder vor. Für mich gibt es keine Hoffnung.«
Mit ihrer freien Hand strich ihm Charlotte übers Haar, aber sie sagte immer noch nichts.