Karl Artur brauchte nicht noch mehr zu hören. Mit Eilschritten lief er von dem Doktor weg, schnurstracks dem elterlichen Hause zu. Als er näher gekommen war, sah er seine verheiratete Schwester, Eva Arcker, an der Gartentür stehen.
»Eva!« rief er. »Ist es wahr? Mutter lebt?« – »Ja«, sagte sie leise. »Der Doktor meint, sie werde am Leben bleiben.«
Rasch wollte er die Tür aufreißen. Er dachte an nichts weiter, als hineinzustürmen, sich seiner Mutter zu Füßen zu werfen und sie um Erbarmen anzuflehen. Aber Eva hielt ihn zurück.
»Du darfst nicht hinein, Karl Artur. Ich stehe hier schon lange, um dich abzufassen. Es ist ein sehr schwerer Schlaganfall gewesen. Die liebe Mutter kann nicht mir dir sprechen.«
»Ich warte, solange es auch dauern mag.«
»Nicht nur der lieben Mutter wegen darfst du nicht hinein«, sagte Eva mit leicht gerunzelter Stirne, »auch des lieben Vaters wegen. Der Doktor sagte, Mutter werde nie mehr ganz gesund werden. Und nun kann Vater deinen Anblick nicht ertragen. Wir wissen nicht, was geschehen könnte, wenn du mit ihm zusammentreffen würdest. Reis zurück nach Korskyrka, das ist das Beste, was du tun kannst.«
Diese Worte seiner Schwester ärgerten Karl Artur. Er war überzeugt, daß sie sowohl des Vaters Zorn als auch die Gefahr für die Mutter, falls die Eltern ihn sähen, übertrieb.
»Du und dein Mann, ihr habt mich immer bei Vater und Mutter ausstechen wollen«, sagte er. »Ihr versteht es, einen günstigen Augenblick zu benützen. Wohl bekomm's!«
Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon.
3
Es ist ja so bei uns Menschen, daß es uns nicht lieb ist, wenn etwas zerbricht. Ja, selbst wenn es nur ein irdener Topf oder ein Porzellanteller ist, lesen wir die Scherben zusammen, legen sie aneinander und versuchen sie zusammenzukitten, um das Stück wieder ganz zu machen.
Etwas in dieser Art war es, womit Karl Artur Ekenstedt während seiner Rückreise nach Korskyrka beschäftigt war.
Jedenfalls aber tat er das nicht den ganzen Tag hindurch, denn man darf nicht vergessen, daß in der vorhergehenden Nacht kein Schlummer in seine Augen gekommen war und daß er auch infolge der vielen aufregenden Ereignisse die ganze vergangene Woche hindurch nicht genügend geschlafen hatte. Jetzt aber kam der Körper mit seiner unbeugsamen Forderung, und so schlief Karl Artur trotz der rüttelnden Postkutschen, in denen er fuhr, und trotz all dem Kaffee, den er beim Bürgermeister in sich hineingegossen hatte, während des größten Teiles des Heimwegs.
Aber während der kurzen Zeit, wo er wach war, versuchte er, Teile und Stücke von sich selbst aufzulesen, damit der Karl Artur Ekenstedt, der erst vor wenigen Stunden denselben Weg gefahren war und der drinnen in Karlstadt in viele Scherben zerschellt war, wieder ganz werden und aufs neue gebraucht werden könnte!
Der eine oder andere denkt vielleicht, es sei ja nur ein erbärmlicher irdener Topf zerbrochen, und es lohne sich kaum der Mühe, Arbeit und Kitt auf ihn zu verwenden. Aber man muß Karl Artur doch entschuldigen, wenn er selbst nicht dieser Ansicht sein konnte, sondern glaubte, es sei eine Vase aus echtem Porzellan mit kostbarer Handmalerei und reicher Vergoldung, die zu Schaden gekommen war.
Auf irgendeine Weise kam es ihm bei seiner Flickarbeit zustatten, an Schwester Eva und ihren Mann zu denken, sich über sie zu erregen und sich aller Gelegenheiten zu erinnern, bei denen sie Proben ihres Neides gezeigt und sich über die Ungerechtigkeit der Mutter beklagt hatten.
Je mehr er an den alten Groll dachte, den Eva ihm gegenüber hegte, desto überzeugter wurde er, daß sie nicht die Wahrheit gesprochen hatte. Es stand gewiß nicht so gefährlich mit der Mutter, wie Eva hatte durchblicken lassen, und daß der Vater so aufgebracht gegen ihn sein sollte, das war gewiß nur eine Finte, die Eva und Arcker sich ausgedacht hatten. Sie hofften, sie könnten diese seine letzte Dummheit – die ja auch unbegreiflich groß war – benützen, um ihn für alle Zeit von dem Elternhause fernzuhalten.
Gerade als er bei dem Schluß angekommen war, daß alles aufs beste verlaufen wäre, wenn ihn Eva nicht fortgewiesen hätte, überfiel ihn das Schlafbedürfnis, und er schlief ununterbrochen, bis die Postkutsche vor einem Wirtshause anhielt.
Ein andermal, als er wach war, dachte er an Jaquette. Gegen sie wollte er nicht ungerecht sein; sie war nicht neidisch wie Eva. Sie war liebenswürdig, und sie hatte ihn gern. Aber war sie nicht recht einfältig? Wenn sie ihn bei der wichtigen Unterredung mit der Mutter nicht gestört hätte, würde er zwar wohl ungefähr dasselbe gesagt haben, aber sicherlich auf andere Weise. Es fällt einem nicht leicht, die Worte gut zu setzen, wenn die ganze Zeit jemand hinter einem steht, der einem am Arme zieht und einem zuflüstert, man solle sich in acht nehmen.
Es war ihm von großem Nutzen, als er an Jaquette dachte und sich sagte, wie dumm und unbegabt sie sei. Aber bald schlief er auch dabei wieder ein.
Mit einem gewissen Widerstreben dachte er bisweilen auch daran, daß Thea Sundler ebenfalls ihren Teil zu seinem Unglück beigetragen hatte. Sie war ja doch seine beste Freundin. Es gab ja niemand, auf den er sich in dem Maße verlassen konnte wie auf Thea; aber sie hatte vielleicht doch nicht genügend von der Welt gesehen, um ein sicherer Ratgeber zu sein. Darin hatte sie sich jedenfalls getäuscht, wenn sie meinte, die Mutter warte darauf, ihn um Verzeihung bitten zu können. Und wenn es auch nur von der großen Wertschätzung kam, die ihm Thea zuteil werden ließ und die allein ihr das Urteil getrübt hatte, so war sie doch immerhin die Veranlassung zu einem großen Unglück gewesen. Die Mutter hätte jetzt tot und er wahnsinnig sein können. Er war ja schon gut auf dem Wege dazu.
Im übrigen mochte er nicht an den Besuch beim Bürgermeister und an die Unterredung mit der Jungfer denken. Es war ihm, als müsse er darüber aufs neue in Scherben brechen, und dann mußte ja die ganze Arbeit des Zusammensetzens wieder von vorne angefangen werden.
Und abermals, während der wachen Augenblicke, kam er auf einen neuen Gedanken. Vielleicht gerade weil er dabei ein solches Entsetzen und so großen Kummer an den Tag gelegt hatte, könnte ihm das zu einer Hilfe werden. Seine Mutter würde schon davon reden hören und dann verstehen, wie lieb er sie hatte. Sie würde gerührt werden, sie würde nach ihm schicken, und sie würden sich miteinander versöhnen.
Ja, er wollte an diesen Abschluß glauben. Jeden Tag wollte er Gott bitten, es auf diese Weise endigen zu lassen.
Wenn man sich so unehrerbietig ausdrücken darf, dann war Karl Artur wieder ganz gut zusammengekittet, als er abends gegen elf Uhr in Korskyrka eintraf. Er wunderte sich selbst darüber, daß er diese furchtbare Gemütserschütterung doch einigermaßen gut überstanden hatte. Schläfrig war er aber immer noch, und als er vor dem Tor der Propstei ausstieg und den Kutscher bezahlte, freute er sich schon darauf, sich nun in einem Bett ausstrecken und sich sattschlafen zu können.
Als er sich nach dem Seitenflügel wandte, kam indes das Mädchen mit dem Bescheid, im Eßzimmer warte ein warmes Abendessen auf ihn. Er wäre freilich am liebsten gleich zu Bett gegangen, aber das war doch sehr freundlich von der Pröpstin; sie hatte wohl gedacht, nachdem er den ganzen Tag gereist sei, könnte ihm eine richtige Mahlzeit notwendig sein, und so ging er mit dem Mädchen hinein.
Das hätte er indes doch wohl nicht getan, wenn er nicht gewußt hätte, daß sich niemand im Hause befand, der ihn über seine Reise ausfragen könnte. Die Alten waren natürlich längst zu Bett gegangen, und Charlotte war ja nicht mehr da.
Als er über den Flur ging, wäre er beinah über eine dicht neben der Tür stehende Kiste, oder was es sonst sein mochte, gefallen. »Ach, nehmen Sie sich in acht, Herr Magister!« sagte das Dienstmädchen. »Dies sind Frau Schagerströms gepackte Sachen. Wir haben den ganzen Tag über allerlei in Stroh verpackt und in Tücher eingenäht.«
Trotzdem fiel es Karl Artur