Hier machte er eine Pause. Er war überzeugt, da er nun so viel gesagt hatte, werde die Mutter von selbst fortfahren. Aber das tat sie nicht; sie schob sich nur ein wenig höher auf das Kopfkissen hinauf und hielt die Augen so beharrlich auf ihn gerichtet, daß es ihn fast peinlich berührte.
Unwillkürlich stieg der Gedanke in ihm auf, ob nicht vielleicht der Verstand seiner Mutter durch die Krankheit geschwächt worden sei. Sie konnte doch sonst halbausgesprochene Dinge verstehen; wenn sie das jetzt nicht tat, so mußte er eben weitermachen.
»Ja, Mutter, es war wirklich meine Absicht, dich niemals wiederzusehen; als ich dies aber einer Freundin mitteilte, fragte sie mich, ob nicht meine Mutter es gewesen sei, die immer verlangt habe, daß man sich für das kleinste Versehen bei ihr entschuldige. Und dann fragte sie mich weiter, ob nicht auch meine Mutter selbst …«
Weiter kam er nicht, denn Jaquette unterbrach ihn wieder. Sie schüttelte jetzt seinen Arm geradezu.
Doch in diesem Augenblick brach die Frau Oberst ihr langes Schweigen.
»Nein, Jaquette, störe ihn nicht«, sagte sie. »Laß ihn weiterreden.«
Als die Mutter das sagte, durchfuhr Karl Artur ein leiser Verdacht, ob sie am Ende doch nicht so ganz zufrieden mit ihm sei, aber er schob ihn gleich wieder weit von sich weg. Sie konnte ihn doch nicht für hart und lieblos halten, das war unmöglich. Größere Schonung konnte sie doch nicht verlangen.
Nein, die Mutter hatte Jaquette nur verbieten wollen, ihn einmal ums andere zu stören. Und jedenfalls hatte er jetzt schon zuviel gesagt, da war es am besten, er sprach sich ganz aus.
»Diese Freundin war es auch, die mich jetzt hierhergeschickt hat. Sie sagte, es sei meine Pflicht, zu meiner Mutter zu reisen, da diese ja nicht zu mir kommen könne. Erinnerst du dich, liebe Mutter, wie du damals nach Upsala gereist bist, damit ich Gelegenheit hätte, dich um Verzeihung zu bitten? Meine Freundin sagte mir, sie sei überzeugt, du werdest einsehen, daß du …!«
Nein, daß es so schwer war, mit seiner Mutter ins Gericht zu gehen! Diese Worte klebten ihm förmlich an der Zunge. Er stammelte, und er hustete, und schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu schweigen. Da flog ein leichtes Lächeln über das Gesicht der Frau Oberst, und sie fragte, wer denn die Freundin sei, die so gute Gedanken über sie hege.
»Thea war's, Mutter.«
»War es nicht Charlotte, die meinte, ich sehne mich nach dir, um dich um Verzeihung bitten zu können?«
»Nein, nicht Charlotte war's, sondern Thea.«
»Ich bin froh, daß es nicht Charlotte war«, sagte die Frau Oberst.
Dabei schob sie sich noch etwas höher auf das Kissen hinauf und versank in Schweigen. Auch Karl Artur sagte nichts mehr. Er hatte seiner Mutter nun gesagt, was er wünschte, wenn auch nicht mit so großer Beredsamkeit, wie es notwendig gewesen wäre. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Mittlerweile betrachtete er seine Mutter. Sicherlich kämpfte sie einen schweren Kampf mit sich selbst. Dem eigenen Sohne gegenüber ihr Unrecht anzuerkennen, das ging nicht so mit einem Male.
Doch nun stellte sie eine andere Frage. »Du hast deinen Pastorenrock angezogen?«
»Ich wollte dir damit zeigen, in welcher Gemütsstimmung ich gekommen bin.«
Ein neues Lächeln huschte über das Antlitz der Mutter, und Karl Artur erschrak, denn es war böse und spöttisch.
Doch plötzlich kam ihm das Gesicht hier auf den Kissen vor, als sei es in Stein gemeißelt. Die Worte, die er erwartete, kamen nicht. Angst erfaßte ihn, es könnte seiner Mutter am Ende nicht möglich sein, zu bereuen und abzubitten.
»Mutter!« rief er und legte in seine Stimme so viel Ermahnung und Erwartung, als ihm möglich war.
Da ging eine Veränderung mit der Kranken vor. Das Blut schoß ihr ins Gesicht; sie richtete sich im Bett auf, hob den gesunden Arm in die Höhe und schüttelte ihn vor seinem Gesicht.
»Nun ist es genug!« rief sie. »Gottes Geduld ist zu En–« Sie konnte nicht mehr. Das letzte Wort erstarb matt und undeutlich. Die Augäpfel drehten sich nach oben, so daß nur noch das Weiße zu sehen war, und die Hand fiel schlaff auf die Decke nieder. Jaquette rief laut um Hilfe und rannte aus dem Zimmer. Karl Artur warf sich über die Mutter. »Was ist dir? Mutter! Mutter! Aber nimm es doch nicht so schwer!« Er küßte sie auf Mund und Stirne, wie wenn er Leben in sie hineinküssen wollte.
Als er so über sie gebeugt lag, fühlte er plötzlich einen harten Griff im Nacken. Jemand hatte ihn am Rockkragen gefaßt, und als ob er ein kraftloser junger Hund wäre, wurde er von einer starken Hand zum Zimmer hinausgetragen und auf den Boden geschleudert.
Zugleich hörte er seinen Vater mit furchtbarer Stimme sagen: »Ach so, du bist wiedergekommen! Du kannst dich wohl nicht zufriedengeben, bis du sie ganz umgebracht hast!«
2
Als die Uhr an demselben Montagmorgen acht Uhr schlug, klingelte es bei Bürgermeisters, und die alte verständige Jungfer, die den Haushalt leitete, eilte in den Flur, um zu öffnen.
Der da draußen stand, war Karl Artur Ekenstedt; aber die Jungfer dachte bei sich, wenn sie nicht seit so vielen Jahren in Karlstadt gelebt hätte und ihr Karl Artur nicht schon als Junge und auch als erwachsener junger Mann bekannt gewesen wäre, hätte sie ihn jetzt nicht wiedererkannt. Sein Gesicht war blaurot, und die schönen Augen waren so vorgequollen, daß es aussah, als wollten sie aus ihren Höhlen treten.
Da die Jungfer schon so lange bei Bürgermeisters im Dienst war und eine gewisse Erfahrung in den einschlägigen Dingen gesammelt hatte, dachte sie, der junge Ekenstedt sehe aus wie ein Mörder, und sie hätte ihn am liebsten gar nicht ins Haus hereingelassen. Da er aber doch der Sohn des Oberst Ekenstedt und der guten Frau Oberst war, blieb ihr nichts anders übrig, als ihn hereinzulassen und ihn zu bitten, Platz zu nehmen und auf den Herrn Bürgermeister zu warten. Dieser mache seinen gewohnten Morgenspaziergang, er frühstücke aber um acht, und bis dahin werde er jedenfalls zurück sein.
Wenn sie indessen schon über den Anblick des jungen Mannes erschrocken war, so wurde sie keineswegs ruhiger, als sie sah, wie er an ihr vorbeiging, ohne zu grüßen oder ein Wort zu sagen, gerade wie wenn er ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt hätte.
Sicherlich war da etwas nicht so, wie es sein sollte. Alle Kinder der Frau Oberst waren ja sonst immer höflich und freundlich. Diesem Sohn hier mußte ein großes Unglück zugestoßen sein. Er ging vom Flur geradewegs in das Zimmer des Bürgermeisters hinein, und die Jungfer sah, daß er sich in dem Schaukelstuhl niederließ. Aber er blieb nicht lange darin sitzen. Gleich darauf trat er an den Schreibtisch und begann in den Papieren des Bürgermeisters zu fingern.
Sie mußte ja in die Küche hinaus und auf die Uhr sehen, damit die Eier zum Frühstück des Bürgermeisters nicht zu hart würden, und dann mußte sie auch für den Kaffee sorgen. Aber sie mußte dabei doch immer an den jungen Ekenstedt denken. Alle Augenblicke lief sie ins Zimmer hinein, um einen Blick auf ihn zu werfen.
Jetzt wanderte er da auf und ab. Bald war er am Fenster und bald an der Tür, und die ganze Zeit redete er laut mit sich selbst.
Ist es verwunderlich, daß sie Angst bekam? Die Frau Bürgermeister war mit den Kindern bei Verwandten auf dem Lande, und die anderen Dienstboten waren beurlaubt. Die Jungfer war allein in der Wohnung, und die ganze Verantwortung lag auf ihr.
Was sollte sie nur mit dem, der da drinnen im Zimmer des Bürgermeisters herumlief und aussah, als habe er den Verstand verloren, anstellen? Wie, wenn er etwas von den wichtigen Dokumenten, die auf dem Schreibtisch lagen, vernichtete? Und doch konnte sie auch nicht ihre Arbeit im Stiche lassen, um ihn zu beaufsichtigen.
Da kam der alten verständigen Jungfer