In den scheinbar teilnahmslosen Augen des Kriegsknechts war ein Funken Mitgefühl zu erkennen. „Macht mit ihm, was ihr wollt.“, antwortete der Soldat unwirsch. „Als Toter kann
er keinen Schaden mehr anrichten und dann müssen wir wenigstens nicht irgendwann die Reste wegräumen.“
Er wandte den Blick ab. Vermutlich war ihm seine antrainierte Härte peinlich. Doch Josef von Arimathäa hatte Wichtigeres zu bedenken, als den Charakter und die Befindlichkeit dieses jungen Mannes.
Johannes beobachtete die angesehenen und wohlhabenden Mitglieder des Hohen Rates mit Skepsis. In dem anderen erkannte er Nikodemus. Der war zwar nie einer von den harten Hunden gewesen; hatte Jesus zugehört, nachgedacht, ihn mit Wertschätzung behandelt, aber er hatte nicht verhindern können, dass die Mehrheit seiner mächtigen Gruppe den Meister zum Tode verurteilt hatte. Sie hatten ihn verdammt, an die blutrünstigen Römer ausgeliefert und das Volk gegen ihn aufgehetzt. Das war kein Justizirrtum, sie hatten Jesus ermordet, weil er an ihren Stühlen gesägt hatte. Johannes wandte sich an Maria Magdalena: „Was haben die mit ihm vor?“, raunte er. „Reicht es nicht, dass sie sein Leben vernichtet haben? Wollen sie jetzt auch noch die Erinnerung an ihn auslöschen? Wir sollten uns an ihre Fersen heften, um sicherzustellen, dass sie nichts Schändliches mit ihm anstellen.“
„Am wichtigsten erscheint mir, dass wir wissen, wo sie ihn hinlegen“, erwiderte Maria Magdalena, „damit wir am Sonntag die Totensalbung vornehmen können. Ich kümmere mich darum. Ich nehme noch ein paar Freundinnen mit und du bringst besser Maria nach Hause. Die Ärmste kann sich ja kaum noch auf den Beinen halten.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Geh nur.“
„Ich warte noch, bis sie Jesus abgenommen haben. Seine Mutter möchte ihn noch ein letztes Mal berühren.“, sagte Johannes.
„Ja. Natürlich.“, erwiderte Maria Magdalena.
Während Josef und Nikodemus den Leichnam vom Kreuz abnahmen und ihn vorsichtig auf mit Duftöl und Myrrhensalbe getränkten Tüchern ablegten, standen die Frauen und Johannes dabei und sahen zu. Maria, die Mutter Jesu trat vor und kniete sich neben ihren toten Sohn. Sie hob seinen leblosen Oberkörper hoch und presste ihn an sich, schmiegte ihre tränennassen Wangen an sein bleiches Gesicht, wiegte ihn in ihren Armen und weinte und schrie vor Schmerz. Alle anderen ließen es geschehen und gaben ihr die Zeit, die sie brauchte. Dann legte sie ihn zurück auf die Tücher, streichelte ein letztes Mal das geliebte Gesicht und trat zurück. Sie sah zu, wie Josef aus Arimathäa und Nikodemus den Toten in die Leinentücher wickelten und hoch hoben.
Maria Magdalena sprach die anderen Frauen an: „Wir müssen uns aufteilen. Jemand muss Kräuter, Öl und Gewürze für die Salben einkaufen, bevor die Geschäfte schließen und am besten noch vor Anbruch des Schabbat die Salben herstellen. Ich werde hinter den beiden Männern des Sanhedrin hergehen, damit wir wissen, wo sie den Herrn hinlegen, aber ich würde ungern allein gehen. Wollt ihr zwei mich begleiten?“, wandte sie sich an Maria Klopas und Frau Zebedäus.
„Ich gehe lieber nach Hause und bereite alles für die Salbenherstellung vor.“, antwortete die Letztere. Maria Klopas dagegen erklärte sich bereit, Maria Magdalena zu begleiten und eine weitere Maria, die Mutter des Joses, eine Cousine der Mutter Jesu, kam hinzu. Sie sagte: „Das sollte ein gelungenes Unternehmen werden, wenn drei Marias zusammenhalten, da werden wir die beiden Leichenträger sicher nicht aus den Augen verlieren.“
„Und wer kauft die Salben?“, fragte Maria Magdalena.
„Salome, Johanna und ich.“, erwiderte Maria Alphäus
„Dann sollten wir uns jetzt gleich in Bewegung setzen.“, sagte Maria Magdalena.
Es widerstrebte ihr, zusehen zu müssen, wie ausgerechnet zwei Mitglieder des Hohen Rates, die Jesus zum Tode verurteilt hatten, nun seinen toten Körper wegtrugen, dazu hatten sie kein Recht, aber sie hatten die Macht und nahmen sich, was sie wollten, sogar den toten Jesus. Er hätte von seinen Jüngern getragen werden sollen, begleitet von denen, die ihn so sehr geliebt hatten. Nicht einmal eine würdige Totenruhe gönnten sie ihm.
„Ich glaube, Maria, also meine Cousine, also die Mutter, hat schon immer geahnt, dass es so endet.“, plapperte Maria, die Mutter des Joses.
Die anderen beiden Frauen schwiegen. Was sollten sie auf so ein Gewäsch auch antworten?
Die redselige Cousine ließ sich aber nicht beirren. Im Gegenteil. Weil sie die Stille nicht ertragen konnte, fasste sie das Schweigen ihrer Begleiterinnen als Aufforderung auf, erneut das Wort zu ergreifen.
„Er war ja schon als Kind recht widerspenstig.“, erklärte sie. „Schon als Zwölfjähriger ist er einfach davongelaufen, um sich mit den alten Männern in der Synagoge herumzustreiten, ohne seinen Eltern Bescheid zu geben. Die ganze Familie war krank vor Sorge und befürchtete das Schlimmste...“
„Die Geschichte kennt wirklich jeder, der Jesus kennt.“, fiel Maria Klopas ihr ins Wort. „Und im Übrigen ist Maria von Nazareth auch meine Cousine, falls du es vergessen haben solltest.“
„Ja, ich weiß, aber du hast ja nicht direkt in Nazareth gewohnt, so wie ich damals. Kennt ihr denn auch die Geschichte mit den kleinen Tonvögelchen?“
„Ja“, erwiderte Maria Magdalena. „Darum wollen wir sie auch nicht hören. Wir wollen jetzt keine fröhlichen Geschichten hören. Wir sind sehr traurig und brauchen etwas Ruhe.“
„Ich bin auch traurig.“, erklärte Maria, die Mutter des Joses. Sie behielt für sich, dass sie nicht wie andere trauerte. Die einen schrien vor Schmerz, zerrissen ihre Kleider oder rupften sich Büschelweise Haare aus. Die anderen wurden ganz still, sanken mit kummervoller Miene in sich zusammen und taten gar nichts. Daran hatte niemand etwas auszusetzen. Aber wenn sie einfach über Jesus reden wollte, weil sie es nicht ertrug, dass er für immer verloren war, dann hatte dafür niemand Verständnis. Er war der einzige Mensch, der immer freundlich zu ihr gewesen war, ihr geduldig zugehört hatte und auch eingegangen war auf das, was sie gesagt hatte, der mit ihr gelacht und sie in schweren Stunden getröstet hatte.
Maria, die jetzt die Mutter des Joses war – und darauf hatte man sie reduziert, sonst wäre sie niemand gewesen – erinnerte sich gut daran, wie alles angefangen hatte. Die Frauen in ihrem Dorf und in ihrer Verwandtschaft, die schienen alle zu wissen, wie man Dinge tat und wie man sie nicht tat. Sie waren sich alle einig, eine eingeschworene Gemeinschaft. Jede achtete jede und war gern mit jeder zusammen. Ihre Cousine Maria, die Tochter der Anna, war schon ein wenig aus der Art geschlagen, die hatte auch nie so richtig dazu gehört. Aber sie wurde mit Respekt behandelt, höflich und vorsichtig.
Sie selbst war schon immer getadelt worden oder hatte einfach gespürt, dass sie den anderen Frauen im Weg war. Auch als sie Elisabeth besucht hatte, zum Anlass der Geburt des kleinen Johannes. „Liebes Cousinchen“, hatte sie damals gesagt, „Du musst dir keine Sorgen machen wenn der Kleine so laut schreit. Das gibt sich. Der übt nur, seine Stimme zu benutzen. Bei meinen beiden war das nicht anders und sie sind gesund wie zwei Fische im Wasser. Lass ihn einfach eine Weile brüllen, dann hört er von allein wieder auf.“
„Die Schreie meines Sohnes bleiben nicht ungehört“, hatte Elisabeth mit saurer Miene geantwortet und Maria keines Blickes gewürdigt. Dann war die andere Maria zu Besuch gekommen, hochschwanger, von wem auch immer, jedenfalls nicht von Josef, ihrem Verlobten und Elisabeth hatte sie fröhlich begrüßt und das kleine Bündel der anderen Cousine gleich in die Arme gelegt.
„Du musst mal seine Windeln wechseln.“, hatte die schwangere Maria gesagt und Elisabeth hatte nur: „Oh wirklich?“ gefragt, an dem Kind geschnuppert und gelacht. „Da hast du wohl Recht.“
Auf die Unerfahrene mit dem zweifelhaften Ruf hatte sie gehört. Sie, die Unbescholtene mochte tun, was sie wollte, sie gehörte nicht dazu, durfte nicht mitspielen.
Das war schon in der Kindheit so gewesen und es schien sich niemals zu ändern. Immer verstanden