Dann lief er und lief und lief immer weiter hinaus aus der Stadt, bis er keine Kraft mehr hatte. Auf einem Acker setzte er sich keuchend auf die Erde und lehnte sich an den Stamm eines uralten Baumes. Solche Wurzeln hätte er auch gern gehabt. Wissen, wer man ist und wo man steht. Gesehen, geschätzt und geliebt werden. Offensichtlich wertvoll sein, sichtbare Früchte hervorbringen. Dieses Ziel war nunmehr in unerreichbare Ferne gerückt.
Die anderen würden ihn verfluchen und bespucken, aus ihrer Gemeinschaft hinausstoßen, seinen Ruf vergiften. Er war ein toter Mann und er hatte die Wahl: ein grausamer, schmerzvoller Abgang, innerlich zerfressen von Reue und Schuldgefühlen, äußerlich vernichtet durch Ächtung und Verstoßung oder ein kurzer schmerzhafter Schlussstrich und danach ewige Ruhe.
Er nahm den Gürtel von seinem Gewand, ein schlichter, fester Strick aus Hanf, der sicher mehr hielt, als etwas Stoff um die Hüfte herum. Er wand eine Schlinge, kletterte auf den Baum und befestigte das andere Ende des Stricks mit einem Knoten, den er einmal von dem Fischer Andreas gelernt hatte, an einem starken Ast. Dann schob er unter großen Mühen – denn das Seil war kurz – seinen Kopf durch die Schlinge und zog sie zu. Judas Iskariot sah noch ein letztes Mal in den funkelnden Sternenhimmel. Dann sprang er in die Tiefe und ertrug, wie sein gesunder Körper, das Gefäß seiner kranken Seele, um sein Leben kämpfte, bis er schließlich verlor.
Neunte Stunde
Bis eben hatte es noch einen Funken Hoffnung gegeben, ein Wunder, eine Rettung in letzter Minute, aber als der ausgemergelte Erstgeborene ihrer Schwester diesen finalen Schrei ausgestoßen hatte und es mitten am Tag dunkel wurde, da wusste sie, dass alles verloren war. Sie riss sich los vom Anblick des soeben Verstorbenen und sah ihre Schwester an, bei der sie den Eindruck hatte, dass der Schmerz kurz davor war, ihre dünnhäutige Hülle zu sprengen, sie auseinanderzureißen und auf diese Weise wieder mit ihrem Sohn zu vereinen. Aber Maria, die Witwe des Josef von Nazareth brach nicht zusammen, sie besaß eine erstaunliche Stärke, so, als habe sie sich ihr Leben lang auf diesen Moment vorbereitet.
Sie hätte jetzt gern die Hand ihrer Schwester ergriffen und sie getröstet. Sie schämte sich so sehr, dass sie Maria in all den Jahren nicht weiter beachtet hatte. Als Kind war sie ihr aus dem Weg gegangen, weil sie sie als Spielverderberin empfand. Lästig war sie gewesen, weil sie sich bei allem so ungeschickt angestellt hatte und ständig ihren Träumen nachhing. Es war schlimm gewesen, für eine jüngere Schwester verantwortlich zu sein, wenn man selbst noch ein Kind war. Sie war ihr immer im Weg gewesen.
Als Maria ungewollt schwanger wurde, hätte sie am liebsten abgestritten, mit ihr verwandt zu sein. Und als Jesus dann durch Galiläa zog, hatte sie auch selten Zeit für sie gehabt – vordergründig, weil sie so viel mit dem Haus und den Kindern zu tun hatte, aber ehrlicherweise, weil das ewig komplizierte Leben ihrer Schwester ihr mächtig auf die Nerven ging. Sie hätte ihr nah sein sollen, aber sie war unendlich weit weg.
Ihr Blick blieb kurz bei der Cousine Maria Klopas hängen, die schien der Schwester verbunden zu sein. Maria stützte sich auf Johannes, den Sohn des Zebedäus, den Jesus gerade eben zu ihrem Sohn ernannt hatte, während seine eigene, leibliche Mutter dabei stand. Wie es ihr wohl damit ging?
Die Frau des Zebedäus war zutiefst erschüttert und voller Sorge. Was würde aus ihren Söhnen werden, die ja in der Gefolgschaft des Nazareners gestanden hatten, der jetzt hingerichtet worden war? Vor allem Johannes, ihr heimlicher Lieblingssohn, als wäre es nicht schlimm genug, dass er sich in den letzten Jahren für ein Leben unterwegs entschieden hatte, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Nun hatte Jesus ihn ihr ganz weggenommen. Er war nicht länger ihr Sohn, sondern der der Maria. Das hatte der Messias so verfügt und sie musste sich damit abfinden. Natürlich war Jesus der Sohn Gottes gewesen, daran hatte sie nie gezweifelt, aber jetzt war er tot und zum ersten Mal regte sich der Verdacht in ihr, dass er am Ende genauso ein Scharlatan gewesen sein könnte wie all die anderen Wanderrabbis. Ein guter Mensch zwar, ein fähiger und beeindruckender, einer der viel und Viele bewegt hatte – aber eben ein Mensch, der starb wie alle anderen. War dies schon das Ende oder erst der Anfang desselben?
„Komm, Maria“, sagte Johannes. „Ich bringe dich nach Hause.“
„Nein“, protestierte die verwaiste Mutter. „Ich will dabei sein, wenn er abgenommen wird. Ich will ihn ein letztes Mal berühren und Abschied nehmen.“
„Natürlich.“, sagte Johannes und sah seine Mutter an. Der Blick in seine Augen beruhigte die Frau des Zebedäus. Johannes war noch immer ihr Sohn und würde es bleiben. Er kümmerte sich einfach um die Mutter Jesu und darauf war sie eigentlich stolz.
„Bin ich noch am Leben?“, dachte Maria, die Witwe des Josef, „oder bin ich schon gestorben wie mein Sohn? Ich spüre mich nicht. Ich kann nichts denken. Wie kann das sein? Wie kann mein Kind, das als Messias auf diese Welt gekommen ist, so jung, grausam und entsetzlich würdelos sterben? Wo ist der mächtige Vater, von dem er immer geredet hat?“
Salome und Maria Klopas hielten sich aneinander fest und weinten. „Was soll denn jetzt werden?“, schluchzte die sonst so lebensfrohe Salome und Maria Klopas hatte kein tröstendes Wort für sie. Da war nur Schmerz, Verzweiflung und Angst. Diese verheerende Dunkelheit mitten am Tag, obwohl keine Wolken am Himmel waren, überall Schmerzensschreie und der Geruch von Blut und Exkrementen – in der ewigen Verdammnis konnte es kaum schlimmer zugehen. Aber wie hätte sie Jesus bei seinem letzten Gang im Stich lassen können, nach allem was er für sie und so viele andere getan hatte?
Maria Magdalena betrachtete Johannes. Was für ein Prachtkerl. Der einzige Jünger, der ausreichend Mut besaß, seinen Rabbi in der größten Not nicht zu verlassen. All die großspurigen Kerle, allen voran Simon Petrus, hatten sich feige verdrückt. Vermutlich redeten sie sich damit heraus, dass Frauen nicht verfolgt wurden, sie gingen kein Risiko ein, wenn sie sich um den sterbenden Heiland versammelten, weil der Feind sie nicht ernst nahm. Aber Johannes passierte ja auch nichts. Er war der einzige Mann, auf den Jesus sich verlassen konnte und das hatte der ja auch schon immer gespürt. Sie erhob die Augen und blickte auf den erstarrten Jesus, den sie nur schemenhaft wahrnahm in der unnatürlichen Dunkelheit und durch den Schleier ihrer Tränen. Nie wieder würde sie seine Stimme hören, nie wieder in seine klugen Augen blicken, die sie teilnahmsvoll betrachteten, wenn sie über das sprach, was sie bewegte, nie wieder die heilsame Berührung seiner Hände spüren, die Nähe, die Wärme.
Johannes war froh, dass er einen Auftrag hatte. Das half gegen die Angst. Jesus hatte ihn wirklich gut gekannt. Sogar unter der Folter hatte er noch für ihn gesorgt. Das war einfach unglaublich. Man musste irgendwie weiterleben. Für Jesus. Das erwartete er einfach.
Maria Alphäus spürte deutlich, dass sie endlich etwas unternehmen wollte. Es hatte sie in den letzten sechs Stunden schier verrückt gemacht, dass sie Jesus nicht hatte retten können und dass auch sonst niemand nur einen Versuch gewagt hatte. Jetzt war es zu spät und alles verloren. Aber sie wollte endlich etwas tun, das war das einzige, was half, den Schmerz, die Trauer und die Verzweiflung auszuhalten.
Zehnte Stunde
Ein Soldat stach eine Lanze in die Taille des Gekreuzigten und weil kein Blut austrat und stattdessen nur ein wässriges Sekret aus dem Körper sickerte, sahen sie, dass das Herz des Rabbis aufgehört hatte, zu schlagen. Gerade wollten die Knechte den Toten von der schweren Holzkonstruktion lösen, um sie für das nächste Opfer menschlicher Willkür bereit zu halten, da tauchten zwei Mitglieder des Hohen Rates auf. Josef von Arimathäa, ein heimlicher Verehrer Jesu, trat an die Soldaten heran und sagte: „Ich würde dem Verstorbenen gern