Gegen welche Schäden moralischer Art das meines Erachtens die Moral nicht minder schädigende Prämiensystem anzukämpfen hat, lehrte uns der Besuch einer großen Mäntelnäherei in Petersburg. Als wir ankamen, war eine kleine Gruppe von jungen Arbeiterinnen im Zimmer des Betriebsleiters versammelt. Auf Stühlen lagen, sorgfältig hingebreitet, hübsche, aus gutem Tuch verfertigte und mit Seide gefütterte Blusen und Jacken, Röcke, sogar einige schöne warme Mäntel aus Plüsch und mit Pelzwerk. All dies wurde an Arbeiterinnen für gutes Verhalten, emsige Arbeit und pünktlich eingehaltene Arbeitszeit verteilt. Wir erfuhren, dass viele von den Arbeiterinnen sich den härtesten Strafen für Verletzung der Arbeitspflicht aussetzten, halbe Tage lang fortblieben, um für die Ehegattinnen irgendwo versteckter reicher Schieber Mäntel zu nähen, Kleider anzufertigen, wobei die Löhne für solche heimlich fertiggestellte Kleider zwischen 60- und 80.000 Rubel schwankten. Hier hatten wir einen wüsten Ansturm von großstädtisch demoralisierten, keifenden und fuchtelnden Frauen zu bestehen. Dieser Ansturm galt dem Abteilungsleiter der Petersburger zentralen Kommunalbehörde, der uns die Werkstätten zeigte. Der Mann, einer der tüchtigsten, gewissenhaftesten und arbeitsfreudigsten Beamten des großen Stabes der Petrokommun war ehemals selbst Schneider gewesen. Die Beschwerden der Arbeiterinnen waren: mangelhaftes Schuhwerk und ungerechte Bevorzugung irgendwelcher Kolleginnen bei der Verteilung der Prämien.
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Russland, das blockierte, vom Krieg bedrängte, vor inneren Feinden sich nur ungenügend schützende Russland krankt an einer Unterproduktion des Notwendigsten.
Das traurigste Wort, das ich in Russland gehört habe, war das Wort: Remont. Remont bedeutet Reparatur, und wenn man Remont hört, bedeutet es, dass etwas kaputt ist, das nicht repariert werden kann. Im täglichen Leben bemerkt man dasselbe wie in den großen Dingen der öffentlichen Einrichtungen und Notwendigkeiten. Ging in dem schönen Hause, in dem ich in Moskau wohnte, eine Schraube von der Klinke meiner Zimmertür verloren, so konnte ich meine Tür nicht mehr schließen, denn es waren einfach keine Schrauben zu beschaffen. Mein Weg in die Stadt führte mich durch eine der belebtesten Verkehrsadern, eine abschüssige Straße entlang. Mitte Oktober hatten wir 15 Grad Kälte. In einem vierstöckigen Hause war allem Anschein nach ein Leitungsrohr geplatzt. Ein ekler Bach von Urin er ergoss sich gelb durch den Schnee und das Eis hundert Meter weit über die Straße. Die Röhren waren nicht zu ersetzen. Überall auf Schritt und Tritt Verwüstung, Unersetzbarkeit, Ruin. Damit zugleich Resignation, Gehenlassen, Verlotterung, Sich-Hinlegen und Sterben.
Anton Iwanowitsch Denikin – 1872 – 1947 – zaristischer Offizier der „Weißen“
Und doch – im Frühjahr 1920 gab es zwischen der Erledigung Denikins und dem neu einsetzenden Polenkrieg einen Zeitraum von ungefähr drei Monaten, in dem die Industrie mit einem Ruck erhöhte Produktion aufwies, dadurch die Belieferung vom Lande einen Aufschwung nahm, die allgemeine Stimmung sich hob, das System erstarkte und an Anhängern gewann. Aber dann kam Polen, dann kam Wrangel, dann kamen die Besetzung des Donjetzbeckens, die Verwüstung und die Abschneidung der ukrainischen Felder, die Wegnahme der Naphthaquellen, Müdigkeit, Verzweiflung. Trotzdem ließ man den Mut nicht sinken. Die Lebensmittelration der Kinder wurde erhöht (die bösen Kommunisten erhöhten sogar die Lebensmittelration für die Kinder der verhassten Bourgeoisie), und die wenigen Monate Waffenstillstand an der Front bewirkten, dass der Winter 1920/1921 minder hart und gefährlich auf die leidende Bevölkerung der großen Städte niederfällt.
Als ich Russland verließ, war Wrangel in die Flucht geschlagen, und wir atmeten auf. Eine Zeitspanne von mindestens vier Monaten Ruhe an den Fronten stand Russland bevor. Russland, das ein bewunderungswürdig aufgebautes Heer von Arbeitern und Bauern besitzt, wird imstande sein, diese disziplinierten, zum Teil enthusiastischen, weil für das Recht kämpfenden Männer zur Arbeit in den wichtigen, für Leben und nächste Zukunft entscheidenden Produktionszweigen umzustellen. Wenn der Krieg, wie ich später ausführen werde, hilft: die Idee des Kommunismus in der Armee und damit in den breitesten Massen des russischen Volkes auf entscheidende Weise zu verbreiten, so hilft der Waffenstillstand, die Atempause zwischen zwei Kriegen, die Industrie zu stärken. So bewirkt der Kampf der Entente genau das Entgegengesetzte von dem, was sie sich von der Bekämpfung des Bolschewismus verspricht. Die Zukunft wird es lehren, ob der Weltkapitalismus sich nicht in einem nutzlosen Ansturm gegen die Idee der Befreiung der Massen aufreibt und verausgabt.
(Die Russische SFSR, die schon im Juni 1990 ihre Souveränität, nicht aber ihre Unabhängigkeit verkündet hatte, erklärte im Dezember 1991 die formale Auflösung der Sowjetunion, was die Überleitung der Außenbeziehungen der alten Sowjetunion auf die neu entstandene Russische Föderation erleichterte. Boris Jelzin, der in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des Landes am 12. Juni 1991 zum Präsidenten Russlands gewählt wurde, übernahm die Kontrolle über Medien und Schlüsselministerien. Schrittweise demontierte und entmachtete er Präsident Gorbatschow, der am 25. Dezember 1991 als Präsident der UdSSR zurücktrat und die Amtsgeschäfte an Jelzin als Präsidenten der Russischen Förderation übergab. Symbolträchtig wurde um 19:32 Uhr Moskauer Zeit die seit 1917 über dem Moskauer Kreml wehende Flagge der Sowjetunion mit Hammer und Sichel eingeholt und die weiß-blau-rote Flagge Russlands aufgezogen. Damit wurde das utopische Experiment des Kommunismus auf russischem Boden beendet.)
Diese Befreiung der Massen ist nicht wörtlich zu nehmen. Denn wenn man unter Freiheit Selbstbestimmung, Leichtigkeit der Bewegung, ein gemütliches Hinvegetieren versteht, so kann man diese Freiheit in Russland allerdings nicht finden. An ihrem Mangel leidet jedermann (nicht allein der Intellektuelle!), am allermeisten aber der russische Arbeiter.
Einige Bemerkungen über die Art der Arbeitszuteilung und die Bedingungen der Arbeit selbst seien hier eingeflochten: Die Freizügigkeit des Arbeiters besteht nicht mehr. Die Vermittelung der Arbeitskräfte geschieht nicht durch Arbeitsbörsen, wie noch vor kurzem, sondern durch das Volkskommissariat für Arbeit (Kommissar Schmidt), das in enger Fühlung und bei den höheren Stellen auch in persönlicher Union mit den Gewerkschaften und ihren Führern steht. Arbeitspflicht besteht für jeden Mann vom 16. bis 50. Jahr, für jede Frau bis zum 40. Jahre. Der Maximalarbeitstag dauert 8 Stunden. In manchen Betrieben, die schwere, gefährliche oder gesundheitsschädigende Formen der Arbeit bedingen, wie in Zündholzfabriken, in Bergwerken usw., reduziert sich die Arbeitszeit um 2 bis 2½ Stunden und um ganze Arbeitstage in der Woche. Frauen haben acht Wochen vor und acht Wochen nach ihrer Niederkunft Anspruch auf vollständige Ruhe, vollständige Bezahlung ihrer Bezüge und auf eine Belieferung an Leinwandstoffen und allem Nötigen für die erste Versorgung des Kindes. Außerdem wird die Milchration, auch wenn die Frau ihr Kind nicht selbst stillt, erhöht. Schwankungen bei der Durchführung all' dieser Vorschriften sind noch zu beobachten. Ich selbst habe in manchen Betrieben junge Mädchen gesehen, die offenbar das 16. Jahr noch nicht erreicht hatten. Indes mag das auf einen Irrtum zurückzuführen sein; verkümmerte, armselige Proletarierkinder sind ja im Wachstum gehemmt worden von je, und der traurige Zustand des gequälten Landes vermochte daran im Zeitraum von drei Jahren trotz der ungeheuersten Anstrengung nichts Entscheidendes zu ändern.
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Um das, was ich über die geistige Arbeit im Dienste des Staatswesens zu sagen habe, gleich in das richtige Gleichgewicht zu bringen, will ich zwei Sätze aus Lenins Broschüre „Staat und Revolution“ zitieren. Der erste Satz lautet: „Beamtentum und ständiges Heer, das sind die Parasiten am Körper der bürgerlichen Gesellschaft.“ Der zweite Satz lautet: „Von einer plötzlich restlosen Beseitigung des Beamtentums an allen Orten kann keine Rede sein. Dies wäre Utopie; aber den alten Beamtenapparat sofort zertrümmern und gleichzeitig mit dem Bau eines neuen beginnen, der die allmähliche Beseitigung jeglichen Beamtentums ermöglicht, das ist keine Utopie.“ Weiter führt Lenin aus: Mit der Beseitigung des spezifischen Vorgesetztentums der Staatsbeamten kann und muss sofort von heute auf morgen begonnen werden, und an deren Stelle müssen die einfachen Funktionen von Aufsehern und Buchhaltern treten.
Was ich in Russland gesehen, erfahren, und ich darf ruhig sagen, erlitten habe, lässt sich auf das System der ungeheuerlichsten Zentralisierung des ganzen Produktions- und Verwaltungsapparates zurückführen, den diese an