Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Holitscher
Издательство: Bookwire
Серия: gelbe Buchreihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783753198255
Скачать книгу
wenn die Menschen sich nur ein bisschen helfen wollen, statt sich zu unterdrücken. Ich dachte an die „kleinen Horden“, die Kinder, die so gern im Schmutz wühlen, die daher in der Gesellschaft der Zukunft die Kloaken reinigen werden. Welche Menschenklasse wird in der Gesellschaft der Zukunft die Ämter anfüllen? Gibt es denn Menschen, die das Brot des Bürokraten aus andern Gründen als aus der absoluten Notwendigkeit, zu leben, die es aus dem Trieb, dem Mitmenschen das Leben so sauer wie möglich zu machen, verzehren?

      * * *

      Subbotnik

       Subbotnik

      Aus der Moskauer „Prawda“ vorn 17. Mai 1919:

      „Das Arbeiten auf revolutionäre Art“

      Kommunistische Samstage

      Das Schreiben des Zentralexekutivkomitees der Kommunistischen Partei über das Arbeiten auf revolutionäre Art hat den Kommunisten und ihren Organisationen einen mächtigen Ansporn gegeben. Die allgemeine Begeisterung hat viele Eisenbahner unter den Kommunisten nach der Front geführt. Doch die meisten durften ihre verantwortlichen Posten nicht verlassen, um neue Methoden der Revolutionsarbeit zu suchen. Die lokalen Berichte über die Langsamkeit der Demobilisierung und den bürokratischen Schlendrian veranlassten die Untersektion der Eisenbahn Moskau-Kasan, ihre Aufmerksamkeit dem Mechanismus des Eisenbahnbetriebs zuzuwenden. Es stellte sich heraus, dass aus Mangel an Arbeitskräften und infolge geringer Arbeitsintensität dringende Bestellungen und eilige Lokomotiven-Reparaturen verzögert wurden. Am 7. Mai wurde in der Generalversammlung der Kommunisten und ihrer Freunde in der Untersektion der Eisenbahn Moskau-Kasan die Frage aufgeworfen, wie man von Worten zu Taten übergehen könne, um den Sieg über Koltschak zu erringen.

Grafik 53

      Alexander Wassiljewitsch Koltschak – Александр Васильевич Колчак – 1874 – 1920

      Die angenommene Resolution lautete folgendermaßen:

      In Anbetracht der schweren inneren und äußeren Lage, die von der Notwendigkeit geschaffen wird, den Klassenfeind niederzuringen, haben die Kommunisten und ihre Freunde sich von neuem aufzuraffen und ihre Ruhezeit um noch eine Stunde zu verkürzen, d. h. ihren Arbeitstag um eine Stunde zu verlängern. Die Überstunden sind zusammenzulegen, und am Samstag sind hintereinander sechs Stunden körperlicher Arbeit zu leisten, um unmittelbar einen realen Wert zu schaffen. In der Meinung, dass Kommunisten weder ihre Gesundheit noch ihr Leben für die Errungenschaften der Revolution schonen dürfen, wollen wir die Arbeit unentgeltlich tun. Der Kommunistische Samstag soll in der ganzen Untersektion bis zum vollständigen Sieg über Koltschak durchgeführt werden.

      Nach einigem Hin und Her wurde dieser Vorschlag einstimmig angenommen.

      Am Samstag, den 10. Mai, traten um sechs Uhr nachmittags die Kommunisten und ihre Freunde wie Soldaten zur Arbeit an, stellten sich in Reih und Glied und bekamen ohne Umstände von den Meistern ihre Arbeitsplätze angewiesen. (Es folgt die Tabelle der hier und anderweitig geleisteten Arbeit.) Die Gesamtkosten der Arbeit hätten bei normalem Tarif fünf Millionen Rubel betragen. Da diese in Überstunden geleistet wurde, hätte sie eineinhalbmal so hoch berechnet werden müssen.

      Die Arbeitsleistung beim Verladen überstieg die Norm um 270 Prozent. Die übrigen Arbeiten weisen ungefähr dieselbe Mehrleistung auf.

      So wurden Verzögerungen dringender Aufträge von sieben Tagen bis zu drei Monaten vermieden, die infolge Arbeitermangel und schleppender Arbeit eingetreten wären.

      Die Arbeit wurde mittels schadhafter Werkzeuge verrichtet, die zwar leicht auszubessern waren, deren Instandsetzung aber einzelne Gruppen 30 bis 40 Minuten aufhielt.“ –

      * * *

      In seiner Broschüre „Die große Initiative“, aus der der vorstehende „Prawda“-Bericht wörtlich abgedruckt ist, nennt Lenin den freiwilligen Arbeitsentschluss der Moskau-Kasaner Eisenbahner die Keimzelle der neuen sozialistischen Gesellschaft, einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhang, eine neue Arbeitsdisziplin, einen Sieg des russischen Arbeiters über den kleinbürgerlichen Egoismus und die eigene Trägheit, den ersten Schritt zu einer wirklich revolutionären Tat, zum faktischen Anfang des Kommunismus. Das Beispiel der Moskau-Kasaner Eisenbahner fand begeisterten Widerhall und enthusiastische Nachahmung in allen Teilen des weiten Landes, wo der kommunistische Grundgedanke der Arbeit für die Gemeinschaft bereits Fuß gefasst hatte und in seinem tiefen Wesen begriffen worden war.

      Wir im Westen horchten auf. Für uns war der 10. Mai 1919 ein geschichtliches Datum, das uns mächtig erschütterte, fast so mächtig, wie der Gedanke an den 25. Oktober 1917, an dem das Proletariat die Macht ergriffen hatte. Wir sahen die Tat der Kasaner Genossen von einer blendenden, die Jahrhunderte überglänzenden Schönheit umflossen. Wir achteten atemlos auf die Brandung, den Glanz, der aus dem Nordlicht herüber schwellen sollte zu den Proletariern der anderen Länder; wir hofften, glaubten und warteten.

Grafik 55

      Alexander Schljapnikow – Александр Гаврилович Шляпников – 1885 – 1937

      Als ein Jahr später Genosse Schljapnikow, der Führer der russischen Gewerkschaften vor dem Vorstand der U.S.P. Deutschlands in Berlin einen Vortrag über Russlands ökonomische Lage und Arbeitsprobleme hielt, fragte ich ihn in der Diskussion, warum er es verabsäumt habe, über die kommunistischen Samstage zu sprechen. Ich bekam eine Antwort, die mich verwirrte und verstummen ließ; sie war ungenügend und vage und schien mir auf den Wesenskern nicht einzugehen. Stand doch der kommunistische Samstag vor meinem Gewissen als etwas Leuchtendes, Heroisches, als ein Beispiel von antiker Größe, denn ich wusste ja, was es für arme, hungrige und übermüdete, dabei träge geborene und jahrhundertelang misshandelte Menschen heißt, freiwillig noch Bürden auf sich zu laden, das einzige hinzugeben, was sie besitzen, ihre Arbeitskraft, und immer wieder Arbeit – für eine Idee, für die Idee!

      Als ich Anfang September 1920 nach Moskau kam, erkundigte ich mich nach dem Subbotnik und nahm auch bald darauf an dem kommunistischen Samstag der Beamten, Arbeiter und Angestellten des Auswärtigen Amtes, dem ich zugeteilt war, teil. Nachmittags um drei Uhr begab ich mich zum Hotel Metropol, dem zweiten Sowjet-Haus, in dessen Seitenflügel das Auswärtige Amt untergebracht ist. Unterwegs hielt mich ein Schauspiel, eine kleine Episode auf. Auf dem Platze vor der Oper, vor dem Blumenbeet, in dem aus bunten Blüten und Gräsern in naiver Zeichnung der Kopf von Karl Marx zusammengestellt ist, stand ein alter Kerl von riesigem Wuchs, mit einem Bocksgesicht und einer Rohrflöte vor den Lippen. Zu seinen Füßen lag sein Hut, und in den Hut und um ihn herum hatte man Rubelscheine, Hunderter und Tausender, außerdem noch Äpfel, Stücke Brot geworfen, sogar ein Ei, eine kostbare Seltenheit, eine fast unerschwingliche Kostbarkeit, hatte jemand vorsichtig auf den Haufen zerknüllter Scheine gelegt. Der Alte flötete mit zusammengekniffenen Augen, wie es mir schien, wunderbar und mit erstaunlicher Leidenschaft die wildlieblichen, herzzerreißend melancholischen Weisen Russlands.

      Ich hatte mich über Gebühr lang im kleinen Park vor dem Theater aufgehalten und traf unten vor dem Hotel Metropol schon fast sämtliche Beamte, Arbeiter und Angestellten des Auswärtigen Amtes an. Ich stellte mich in Reih und Glied; wir waren etwa 80 an der Zahl, Männer und Frauen, ältere und jüngere Leute. Unter uns waren Korrespondenten vieler Nationen, Stenotypistinnen, ein Staatssekretär (oder von ähnlichem Rang), Delegierte der Internationale, Diener, Beamte aller Kategorien und auch unser Freund, der Quäker, war gekommen. Es ging militärisch zu, unsere Namen wurden von einer großen Liste abgelesen, und hinter die Namen, die sich nicht meldeten, ein Zeichen gemacht. Wir formten uns zu Reihen, zu viert, dann auf offener Straße zu Zweien und zogen in scharfem Marschschritt nach dem Petersburger Bahnhof im Norden der Stadt.

      Es war ein etwa halbstündiger Weg, den wir in gutem Tempo zurücklegten. Ich ging neben einem österreichischen Genossen, der mich von Berlin her kannte, wo er mich sprechen gehört hatte. Wenn wir nicht sangen, unterhielten wir uns über den Subbotnik.