»Alle waren verwirrt, denn diese Art zu jagen, war keinem geläufig. Bärenbach schien auch gar nicht die Absicht zu haben, nach Wild Ausschau zu halten. Er hielt uns ständig zurück, was die Stimmung deutlich verschlechterte. Jetzt weiß ich, dass er auf etwas ganz anders wartete als wir.« Hilmar schüttelte den Kopf, erhob sich von der Bettkante und stellte sich vors Fenster. »Der Morgen graute«, erzählte er weiter, »als ein Horn zum Angriff blies. Bärenbach schien nur auf dieses Signal gewartet zu haben. Ohne Rücksicht auf uns oder die Pferde bahnte er sich einen Weg durch das Unterholz.« Wieder schüttelte Hilmar den Kopf, starrte aber weiterhin aus dem Fenster. »Wahnsinn, absoluter Wahnsinn sage ich dir. Ich dachte, dass sowohl der Herzog von Erdolstin, von dessen Gruppe das Signal kam, als auch Bärenbach den Verstand verloren hatten. Schließlich befanden wir uns auf der Jagd und nicht im Krieg, aber als wir bei den anderen ankamen, sah es im Wald tatsächlich wie auf einem Schlachtfeld aus. Felhorn und Wilberg bluteten aus frischen Wunden, und überall auf dem Boden lagen so viele Pfeile herum, als hätte eine Hundertschaft Bogenschützen auf Herzog von Erdolstin und seine Truppe gewartet.«
Nun drehte sich Hilmar zu Agnus um, und zum ersten Mal, seit er zu erzählen begonnen hatte, sah er ihm in die Augen. »Aber was für Pfeile das waren … Einen habe ich mitgenommen, der liegt noch in meiner Satteltasche.« Mit wenigen großen Schritten durchquerte der Graf den Raum und begann in seinen Taschen zu wühlen. »Mein Neffe, Vinzenz von Hohenwart, war mit der Gruppe des Herzogs geritten. Du kennst Vinzenz. Er ist ein vernünftiger Mann«, sagte Hilmar und sah Agnus eindringlich an.
Natürlich kannte Agnus Vinzenz von Hohenwart, er war sein zweiter Nachbar. Nur, dass Vinzenz sich auch hier auf der Burg aufhielt, wusste Agnus nicht.
»Auf dem Rückweg hat er mir erzählt, dass etwa ein Dutzend eigenartig gekleidete und noch seltsamer aussehende Wesen wie aus dem Nichts im Wald auftauchten und der Herzog sie sofort angriff. Aber genau so plötzlich, wie sie erschienen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Ein einziges dieser Wesen soll all die Pfeile verschossen haben. Die Männer mussten hinter den Bäumen in Deckung gehen.« Der Graf presste die Lippen zu einem Strich zusammen. »Kannst du dir vorstellen, dass jemand so schnell schießen kann, dass er fünfzehn Mann damit in Schach hält?«
Agnus verneinte.
Hilmar begann wieder in seiner Tasche zu wühlen. Dabei redete er weiter. »Den ganzen Vormittag waren wir auf der Suche nach einer Spur dieser seltsamen Kreaturen. Irgendwann kam die königliche Wache hinzu, aber gefunden haben wir nichts. Nur diese wunderschönen Pfeile.« Hilmar hielt den Pfeil in seiner geöffneten Hand.
Der Farbverlauf begann bei einem hellen Braun an der Spitze und verdunkelte sich bis zu den nachtschwarzen Federn am Ende. Die Eisenspitze verband sich durch eingelassene Metallfäden in einem komplizierten Muster mit dem Holz. Als Agnus mit dem Finger über den Pfeil strich, konnte er keinerlei Unebenheiten spüren.
»Was meinst du, wer diese Männer waren?«, fragte er. »Glaubst du, der König hat sie erwartet oder wollte sie abfangen?« Bruchteile alter Geschichten verdichteten sich in Agnus´ Kopf. Gnome liefen durchs Wildmoortal, seltsame Geschöpfe durch den Wald. Plötzlich schien ihm nichts mehr unmöglich.
»Abfangen! Ha!« Hilmar schnaubte. »Die Jagd war ein Vorwand. Der König wollte uns etwas zeigen. Vielleicht wollte er eines dieser Wesen fangen. Gewiss ist, dass wir nur deswegen in den Wald geritten sind. Niemand hat ein Tier geschossen. Wohl aber behauptet Graf Wilberg, dass er den verwegenen Schützen der anderen tödlich getroffen hat.«
»Was denkst du, wird heute Abend über den Vorfall gesprochen?«
»Sicher, Agnus. Sicher. Darum ist es mir auch so wichtig, dass du dabei bist. Ich habe schon den ganzen Tag das Gefühl, den Verstand zu verlieren.« Hilmar lächelte beklommen. »Vinzenz, aber auch einige andere behaupten, die fremden Reiter im Wald gehörten zu dem Alten Volk. Den Elben.«
»Hmm«, sagte Agnus nachdenklich. Und dann noch einmal: »Hmm.«
»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«, fragte Hilmar, ungläubig darüber, dass Agnus ihm scheinbar keinen Vortrag über die Unmöglichkeit seiner Behauptung halten wollte.
»Es scheint, dass die alten Geschichten erwachen. Sie werden Wirklichkeit«, erläuterte Agnus, selbst verblüfft von dieser Erkenntnis.
»Was redest du da? Alte Geschichten werden Wirklichkeit? Ich dachte, du seist ein vernünftiger Mann.«
»Das bin ich. Aber sag du mir, wann warst du zum letzten Mal zu Hause?«, fragte Agnus, heftiger als gewollt. »Weißt du denn gar nichts von dem, was sich dort bewegt?«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, konterte Hilmar, überrascht über den barschen Ton des Freundes.
»Gnome sind im Moor, und falls sie auf deiner Weidenburg noch nicht waren, dann doch bestimmt in den Höfen deiner Untertanen, die näher an den Helmsholmhügeln wohnen als du«, knurrte Agnus.
Hilmar sah ihn fassungslos an. Er wusste, dass Agnus bei Dingen, die sein Land betrafen, keine unüberlegten Schlüsse zog.
»Deshalb bist du hier.«
Agnus nickte ernst.
»Wann hast du deine Audienz beim König?«
»Pfff«, zischte Agnus. »Irgendwann. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche oder in einem halben Jahr …«
Hilmar fuhr in seine Stiefel und stapfte zur Tür. »Wenn es soweit ist, gehe ich mit dir zum König«, sagte er fest und sah Agnus nachdenklich an. »Bist du dir sicher, dass es Gnome sind?«
Agnus nickte.
»Dann ist dieser … dieser … Mensch auf dem Ebelsberg wirklich ein Zauberer?«
»Davon gehe ich aus.«
Jetzt nickte Hilmar so, als wüsste er, was zu tun sei. »Wir sehen uns nachher«, sagte er und verließ entschlossen den Raum. Eine ganze Weile blieb Agnus noch an derselben Stelle stehen. Er war zufrieden, dass Hilmar ihm geglaubt hatte. Zu zweit konnten sie beim König bestimmt mehr erreichen. Hoffnungsfroher als in den letzten Tagen begab er sich in die ihm zugeteilten Gemächer.
***
»Jetzt hast du den Beweis dafür, dass ich dir den richtigen Mann geschickt habe.«
»Das nennst du einen Beweis? Ein paar sinnlos verschossene Pfeile und zwei verwundete Männer.«
»Es sind keine gewöhnlichen Pfeile, das weißt du so gut wie ich, und ich sage dir, wir haben auch einen von ihnen verletzt …«
»Verletzt? Angeblich verletzt, aber nicht gefangen. Wie soll ich jetzt beweisen, dass es nicht bloß ein paar Landstreicher waren. Ein paar von denen, die eigentlich in meinen Kerker gehören, weil sie meine Steuern nicht bezahlen?«
»Beruhige dich, Bruder. Du bist der König. Die Pfeile und die Augenzeugen werden ausreichen, um zu bestätigen, dass es hier in deinem Land immer noch verborgene Feennester gibt. Deine Nachforschungen haben sich bestätigt, und der Zauberer, den ich dir geschickt habe, hat sich als nützlich erwiesen. Trotzdem bist du unzufrieden!« Herzog Valerian von Erdolstin hatte noch viel mehr zu sagen, aber er versuchte, sich zu bremsen, denn er kannte die schlechte Laune seines Bruders, die auf einen Fehlschlag folgte, nur zu gut.
»Kann ich dieser Kreatur denn überhaupt trauen?«, entgegnete der König zornig. »Genauso gut kann er sich das alles für uns ausgedacht haben. Nach Jahren der Tatenlosigkeit behauptet dieser Dosdravan nun, seine Gnome hätten in den Quellenbergen eine Gruppe Elben aufgestöbert. Er kann mir zwar keinen Beweis dafür liefern, will aber wissen, dass sie bis hierher in den Wald vordringen werden.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Seit Jahren saugt er mir das Geld aus der Tasche. Erst will er einen Turm in den Quellenbergen. Dann lässt er sich seine ganze Ausrüstung von Steuergeldern, die mir zustehen, bezahlen. Danach wünscht er sich einen zweiten Zauberer auf dem Ebelsberg, nur weil dort die andere Quelle des Engelsees ist. Ich bezahle also wieder den Aufbau eines Turmes und verbaue mir damit mein schönstes