»Wenn’s nur Elvira wäre«, seufzte Feodor. »Aber wir haben beim Nachhausekommen auch noch Edeltrud getroffen.«
»Was hast du der erzählt?«, rief Phine und musterte Philip streng.
»Er hat ihr nur gesagt, dass ich krank bin«, sprang der Vater ein. »Das hatte ich Ruben bereits erzählt.«
»Ja, und wo ist dann das Problem?«
»Sie hat nur uns beide gesehen. Keine Frau, kein Kind«, erläuterte Philip. »Daran wird sie sich erinnern, wenn …«
Seine Mutter winkte ab. »Wenn’s nur darum geht, dann erzählen wir, dass ich deines Vaters Base vorhin mitgebracht habe.«
»Ach …«, spöttelte Feodor.
Philip grinste.
Josephine warf beiden einen vernichtenden Blick zu, schmunzelte dann aber auch. »Wissen die Buben etwa schon …«
»Nein.«
»Dann ist ja gut. Jetzt müssen wir uns nur noch gegenseitig unseren Tagesverlauf erläutern, damit wir uns nicht in Widersprüche verwickeln und damit wir die Realität nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren«, sagte Phine. »Zuallererst würde ich gerne wissen, wo du sie gefunden hast.«
»Jar’jana?«, fragte Feodor.
Jar’jana, rauschte es in Philips Ohren. Der Name klang eigenartig und fremd, gleichzeitig lieblich wie Musik. Sein Herz schlug schneller, als er an ihr bleiches Gesicht dachte. Bei dem Gedanken an ihren schmalen Körper und das blutverschmierte Kleid krampfte sich sein Magen zusammen.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass der Vater bereits zu erzählen begonnen hatte.
»… Morgengrauen, da hatte ich auf der Lichtung einen jungen Rehbock im Visier, als der plötzlich von einem fremden Pfeil getroffen, vorne einknickte. Eine Weile geschah nichts, dann brachen einige Reiter aus den Büschen und jagten das verletzte Tier, aber keiner gab den tödlichen Schuss ab. Die Reiter gehörten zu einer königlichen Jagdgesellschaft. Der König selbst ritt mit.« Die Mutter zog scharf die Luft ein, aber der Vater redete weiter. »Die ganze Jagdgesellschaft preschte dem Bock hinterher in den Wald. Mir war klar, dass ich so schnell wie möglich verschwinden musste, als in der Ferne plötzlich ein Horn erschallte. Augenblicklich donnerten die Reiter wieder über die Lichtung zurück und entfernten sich nach Norden.«
Phine gab einen erstickten Laut von sich.
Feodor lächelte sie besänftigend an. »Als sie an meinem Versteck vorbei waren«, fuhr er fort, »habe ich mir meinen Wagen geschnappt, aber auf direktem Weg zurück konnte ich jetzt nicht, also bin ich erstmal tiefer in den Wald hineingelaufen.«
Philip beugte sich vor und lauschte gespannt.
»Ich war bereits weiter vorgedrungen, als jemals zuvor. Die Bäume wurden größer und es gab keinen Busch mehr, in dem ich mich hätte verstecken können, als ich plötzlich ein Kind weinen hörte.« Feodor machte eine kurze Pause, um einen Schluck von seinem Tee zu trinken. »Ich bin dem Geräusch gefolgt, und da lagen sie. Jar’janas Atem ging so flach, dass ich im ersten Moment glaubte, sie wäre tot. Aber als ich sie auf den Wagen heben wollte, wachte sie auf. Sie wehrte sich so lange, bis sie wieder das Bewusstsein verlor. Mit einem weiten Hacken nach Süden habe ich mich dann zurück zur Stadt durchgeschlagen. Es hat fünf Stunden gedauert, bis ich in der Schmiede war …« Erschöpft strich sich Feodor über die Augen. »Den Rest der Geschichte kennt ihr ja.«
»So weit im Wald bist du gewesen?« Phines Stimme klang besorgt und vorwurfsvoll.
Feodor zuckte mit den Schultern. »Der Wald … ich weiß auch nicht, wie ich es beschreiben soll. Er war freundlich zu mir. Vielleicht ist er doch nicht so wild und gefährlich, wie wir alle hier glauben.« Er lächelte sie zärtlich an.
Phine nahm seine Hand und presste sie an ihre Lippen. Philip sah verschämt zur Seite. Was für ein verwirrender Tag.
»Philip! Der heutige Tag war für uns alle eine Herausforderung. Du warst mir und deinem Vater eine große Hilfe. Danke«, sagte seine Mutter milde.
Er wehrte ab, freute sich aber trotzdem über das Lob. »Andere machen eine Lehre oder verdienen Geld, während …« Weiter kam er nicht, denn Phine unterbrach ihn.
»Andere sind nicht du. Du bist klug und solche Tage wie heute machen deinem Vater und mir besonders deutlich, wie wichtig es ist, dass du die Möglichkeit erhältst, dich weiter zu entwickeln. Darum haben wir beschlossen, dass du noch in diesem Sommer ins Monastirium Wilhelmus gehen sollst, um deine Studien fortzusetzen. Was denkst du?«
Philip war sprachlos. Eines Tages im Monastirium Wilhelmus zu studieren, war ein heimlicher Traum von ihm. Ein Traum, den er nie zu Ende zu träumen wagte, denn das Studium war für all jene, die nicht als Mönch dem kirchlichen Orden beitreten wollten, sehr teuer. Wie kam seine Mutter nur ausgerechnet jetzt darauf? Hatten sie nicht genügend andere Sorgen?
»Aber«, stammelte er. »Wie … ich meine … gerade jetzt …«
»Ach Junge«, sagte Feodor. »Lass uns ein andermal in Ruhe darüber reden. Heute ist es spät, und morgen wird ein langer Tag. Lasst uns ins Bett gehen.«
Phine räumte die Teetassen in den Spülstein. »Ich werde noch einmal nach Jar’jana sehen und dann versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.«
»Gute Nacht«, sagte Feodor und machte sich auf den Weg ins Schlafgemach.
Philip schlich die Treppe leise nach oben. Vor seinem Zimmer, in dem jetzt die Elbin lag, blieb er stehen und lugte durch die angelehnte Zimmertür. Jar’jana lag im Bett und bewegte sich nicht. Seine Mutter saß auf der Bettkante, ihre Hand tastete nach der Stirn der Elbin. Plötzlich raschelte es und Jar’jana hob den Kopf. Ihr Haar floss wie ein Wasserfall über ihre Schulter, als sie sich auf den Ellbogen stützte und in die Wiege sah. Das viel zu weite Nachthemd, das sie jetzt trug, tat ihrer überirdischen Schönheit keinen Abbruch. Ihm wurde heiß und kalt.
»Ihr solltet versuchen, sie anzulegen«, sagte seine Mutter leise.
Aus großen Augen, sah Jar’jana sie an, dann huschte ihr Blick zur Tür. Philip fuhr ertappt zurück und entfernte sich eilig und mit glühenden Wangen in den Garten. Die Nacht war angenehm lau. Eine ganze Weile stand er nur still da und lauschte den Geräuschen der Nacht. Irgendwo rauften zwei Katzen. Ein Hund bellte in der Ferne, Frösche quakten im Teich. Philips Gedanken drehten sich um Jar’jana. Er malte sich aus, wie es wäre, mit ihr zu sprechen, durch ihr Haar zu streichen. Bin ich verliebt, dachte er. So etwas Dummes. Verliebt?! Das war ja wohl die aussichtsloseste Verliebtheit, die es überhaupt geben konnte. Bestimmt ist sie viel älter als ich, dachte er. Sie ist schließlich gerade Mutter geworden. Sie ist eine Elbin, und ich bin ein Mensch … Aber sie ist so schön. Er seufzte leise. Sein Vater hatte recht, diesen Tag würde er bestimmt nie vergessen, denn er war für ein Märchenwesen entbrannt, das er nicht haben konnte. Trotzdem war es wunderbar, dass es sie gab.
Er drehte sich um und ging zurück ins Haus.
5. Der Auftrag des Königs
Die Burg war strategisch sehr gut angelegt, stellte Agnus fest, als er aus der Stube des königlichen Sekretärs, wo er um eine Audienz mit dem König ersucht hatte, wieder auf den Hof trat. Sie thronte hoch oben auf dem Falkenberg, der steil wie ein Finger aus der Landschaft hervorragte. Nur ein Weg führte hinauf, und das war die gewundene Straße. Das Außenwerk der Burg bildete ein übersichtliches Plateau, das mit nur wenigen Metern fester Mauer und einem gewaltigen Torhaus gesichert werden konnte, den Rest des Schutzwalls übernahm der Berg selbst. Die mittlere Mauer, ebenfalls sehr dick und wehrhaft, zog einen großen Kreis um die Vorburg. Hinter dieser Mauer fiel der Felsen auf nahezu allen Seiten senkrecht ab, nur zum Außenwerk hin senkte er sich sanft. Die Hauptburg war noch einmal durch eine Mauer und massive Tore abgegrenzt und mit einem eigenen Brunnen versehen. Ein Angriff oder eine Belagerung war nicht erfolgversprechend,