»Du starrst Löcher in die Luft!«, mahnte der Vater.
Philip setzte sich in Bewegung, jedoch war er nicht ganz bei der Sache. Die Vorstellung, am helllichten Tag mit einem neugeborenen Elbenkind und dessen Mutter auf dem Handwagen seines Vaters quer durch Waldoria zu laufen, beflügelte seine wildesten Phantasien. Was geschah, wenn die Elbin aufwachte und zu schreien anfing? Was, wenn sie einfach aufstand und in den Wald lief? Was, wenn der Säugling brüllte?
Erschrocken fuhr er zurück, da er beinahe mit seinem Vater zusammengestoßen wäre.
»So geht das nicht«, sagte dieser. »Wenn du so aufgeregt bist, bemerkt jeder, der uns sieht, dass etwas nicht stimmt.« Er packte seinen Sohn am Arm und drückte ihn auf einen Schemel. Philip wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Kopf, eben noch voller Gedanken und Vorstellungen, war auf einmal leer.
»Deine Mutter sagt, dieser – ähm –«, Feodor zögerte, »Frau ... geht es sehr schlecht, aber es ist nicht hoffnungslos. Sie hat Fieber und muss zu allererst einmal in ein sauberes Bett.« Er räusperte sich. »Das Kind ist sehr schwach. Es braucht viel Wärme, sonst überlebt es nicht. Wir sollen es ordentlich zudecken und nahe zu seiner fiebernden Mutter legen.« Sein Blick flog unruhig hin und her, dann sagte er: »Was wir brauchen, sind also saubere, warme Tücher, um das Kind auf dem Bauch seiner Mutter festzubinden. Dann legen wir etwas von dem Werkzeug neben die beiden und decken alles so zu, dass man nur noch einen Teil vom Werkzeug sieht. Alles Weitere besprechen wir daheim.«
»Aber …«, begann Philip.
»Daheim!«, unterbrach ihn sein Vater knapp und ging zu dem Werkzeug, das er zusammengesucht hatte.
Philip fühlte sich zurechtgewiesen. Warum sollte keiner wissen, dass es Elben gab? Schließlich erzählte jeder Geschichten über dieses Volk. Andererseits – es waren nur Geschichten, keiner glaubte an die Existenz dieser Wesen. Oder etwa doch? An all den Märchen über die Elben hatte sein Vater nie besonderes Interesse gezeigt. Trotzdem hatte er sie erkannt, während Philip, der bestimmt alle Erzählungen und Gedichte über Elben kannte, erst gar nicht auf den Gedanken gekommen war, es könnte sich um dergleichen handeln. Und Mutter? Sie hatte sich überhaupt nichts anmerken lassen. Fast könnte man glauben, es handele sich für sie um die natürlichste Sache der Welt.
»Dort drüben sind Tücher«, riss der Vater Philip aus seinen Gedanken. Philip bemerkte den gehetzten Ausdruck in den Augen des Vaters und verwarf seine vorangegangenen Überlegungen. Natürlich durfte niemand wissen, dass es sich bei der Frau und dem Kind um Feen handelte.
Eilig brachte er die Tücher zum Wagen.
Da schlief sie wie ein Engel mit ihrem goldenen Haar. Jeder Atemzug ließ das Blatt, das sie als Anhänger um den Hals trug, auf den blauen Wogen ihres Kleides schaukeln. Der schmale Körper zeichnete sich deutlich unter dem fließenden Stoff ab. Sie war unsagbar schön. Philip konnte seine Augen kaum von ihr abwenden. Sein Herz pochte wild in der Brust. Mit hochrotem Kopf sah er auf das Kind, das sein Vater schon auf den Bauch dieses makellosen Wesens gelegt hatte. Als er das Kind zudeckte, streifte er den Körper der Elbin. Seine rauen Finger kratzten an dem seidigen Kleid. Er spürte die Hitze ihres Körpers, die ihm knisternd von den Fingerspitzen direkt in den Bauch fuhr. Seine Ohren glühten vor Verlegenheit. Gleichzeitig wünschte er, sie noch einmal zu berühren. Wünschte, sie würde ihre Augen aufschlagen und ihn ansehen.
Plötzlich bemerkte er, dass ihn sein Vater schmunzelnd ansah. Er dachte, sein Herz müsste nun endgültig zerspringen, sein Kopf glühte wie das Schmiedefeuer, das normalerweise brannte.
»Sie ist sehr schön«, sagte sein Vater leise und verständnisvoll. »Ich hab mich kaum getraut, sie zu berühren. Aber jemand musste ihr helfen …« Er lächelte schmal. »An diesen Tag wirst du dich dein Leben lang erinnern.« Er schloss seinen Sohn in die Arme und drückte ihn einen Moment an sich. »Bald wirst du endgültig erwachsen sein. Dabei kommt es mir vor wie gestern, als du auf dem Arm deiner Mutter lagst und kaum mehr warst als dieses winzige Wesen. Mein Sohn!«
Die Beklemmungen an diesem Tag schienen nicht enden zu wollen. Sein Vater hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr umarmt. Philip rang um Fassung, wandte sich ab und tat so, als würde er nach der größeren Plane Ausschau halten. Als er seinem Vater das gewachste Tuch in die Hand drückte, bemühte er sich, die Elbin nicht anzuschauen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Feodor vorsichtig den Stoff über den Wagen legte. Zärtlich. Ein Stich fuhr ihm in die Brust, und er fragte sich, wie Mutter nur damit einverstanden sein konnte, dass ihr Mann eine andere so … so … umsorgte?
Er öffnete das Tor der Schmiede und war beinahe erstaunt zu sehen, dass die Welt da draußen noch die Alte war. Sein Vater stand mit dem Handwagen hinter ihm. Jetzt, im hellen Tageslicht, wirkte er angespannt und müde. Misstrauisch sah er sich um und überprüfte dann noch einmal den Sitz der Plane, ehe er mit dem Wagen die Schmiede verließ und darauf wartete, dass Philip das Tor abschloss.
»Bringen wir es hinter uns«, murmelte er und straffte die Schultern.
Sie sprachen kein Wort, während sie die Hauptstraße überquerten. Als sie in die schmale Gasse, die zum alten Turm hochführte, einbogen, atmeten sie beide erleichtert auf. Kein Mensch war hier zu sehen. Philip half dem Vater, den Wagen das steile Stück hochzuziehen. Nur ihre Schritte und das Knirschen der Räder waren zu hören.
»Wo sind eigentlich Jacob, Johann und Josua?«, fragte der Vater plötzlich.
Philip, dessen Gedanken um nichts anderes als den Inhalt des Wagens kreisen konnten, fuhr erschrocken zusammen.
»Junge, Junge«, lachte Feodor und schüttelte den Kopf. »Du bist aber schreckhaft heute.«
Philip grinste verlegen zurück.
»Josua ist im Turm, Jacob und Johann plündern gerade den Kirschbaum«, erklärte er, froh darum, dass vor dem Abendessen mit keinem der drei zu rechnen war.
»Sag bloß, die kommen auf den Baum rauf!«
»Doch. Sehr zum Leidwesen ihrer Kameraden.«
»Wann warst du zum ersten Mal auf dem Baum?«
Philip zögerte. Wollte sein Vater jetzt wirklich über derlei unwichtige Dinge sprechen?
»Vor etwa zwei Jahren«, antwortete er. »Als ich endlich groß genug war und hoch genug springen konnte, um den untersten Ast zu erreichen.« Er erinnerte sich noch gut an diesen Tag, denn damals war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass er so groß wie sein Vater war. »Jacob und Johann klettern am blanken Stamm hoch«, berichtete er. »Ich weiß nicht, wie sie sich überhaupt festhalten können.«
Feodor lachte. Die Ablenkung war ihm gelungen. Philip atmete wieder gleichmäßig und gelöst, und die Anspannung in seinem Gesicht war verschwunden.
Als sie jedoch um die nächste Ecke bogen, wäre Philip um ein Haar wie angewurzelt stehengeblieben, denn er erkannte schon von weitem zwei Nachbarinnen, die schwatzend vor ihrem Haus standen. Eine der beiden entdeckte sie sofort und winkte ihnen zu. Es war Edeltrud, die in der ganzen Stadt als Klatschweib bekannt war. Feodor zog Philip, dessen Herz wild in der Brust hämmerte, unnachgiebig weiter. Um sich zu beruhigen, atmete er langsam ein und aus und wieder ein und aus. Freundlich lächeln, beschäftigt tun und weitergehen, dachte er, aber seine Knie waren weich und das Lächeln, zu dem er sich zwang, tat ihm jetzt schon weh.
»Wenn wir dort sind, lenkst du sie ab, und ich bringe den Wagen in den Schuppen«, zischte der Vater. »Lass dich nicht auf ihr Geschwätz ein.«
Philip spürte die Hitze, die sich hinter seinen Ohren breitmachte und hoffte, dass sein Gesicht nicht wieder zu glühen anfing.
»Ach, die Gordinian-Männer«, rief Edeltrud und sorgte somit dafür, dass jeder, ob auf der Straße oder im Haus, bescheid wusste. »Wo ist denn die Phine?«, brüllte sie ebenso laut in breiter Waldoria-Mundart. »Wir wollten sie zum Tee bei Martha abholen, wo doch morgen Sonntag ist.«
»Grüß dich, Edeltrud«, sagte Feodor, als sie nahe genug herangekommen waren. »Phine ist nicht da.