Verwundert bemerkte er, während er auf seiner Stute langsam den Berg hoch ritt, dass die Krieger, kaum im Tal angekommen, die Straße verließen und auf den Wald zuritten. Müde und durstig, wie er war, machte er sich jedoch darüber keine weiteren Gedanken.
Als er kurz darauf das erste Burgtor erreichte, lag der Vorhof dahinter wie ausgestorben. Die Gatter der Pferdekoppeln standen weit offen und Wachen konnte er keine entdecken. Agnus sprang aus dem Sattel und lief zu Fuß weiter, sein Pferd folgte ihm am Zügel. Auch das zweite Tor passierte er, ohne dass er nach seinem Anliegen gefragt wurde. Er schritt durch das gewaltige Torhaus in die Vorburg und stand unvermittelt im größten Chaos, das er sich vorstellen konnte.
Als er verwirrt stehen blieb und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen, stieß ein Knecht, der mit einem schweren Sack beladen war, mit ihm zusammen. Die unfreundlichen Worte, die dieser hervorstieß, wurden von dem Sack verschluckt.
Agnus sprach den nächsten Mann an, doch dieser stolperte, von dem Gewicht des Sackes nach vorne geneigt, weiter, ohne ihn zu beachten. Auch der nächste und übernächste Versuch sich weiterhelfen zu lassen, schlugen fehl.
Es war schon viele Jahre her, dass Agnus zum letzten Mal in der Königsburg gewesen war. Damals noch in Begleitung seines Vaters. Er erinnerte sich, dass es irgendwo im innerersten Bereich der Burg einen Brunnen gab. Den musste er finden. Dann würde er sich in den Schatten setzen und darauf warten, dass jemandem auffiel, dass er nicht hierhergehörte.
Ganz knapp gelang es ihm, einem weiteren sackbeladenen Mann aus dem Weg zu gehen, dabei dachte er an seine eigene beschauliche Burg im Wildmoortal, wo er jeden kannte, der ein und aus ging. Weiter oben entdeckte er das nächste Tor. Ein grimmiges Grinsen trat in sein vernarbtes Gesicht.
»Komm Lisia«, brummte er seiner Stute zu, und sie folgte ihm mit hängendem Kopf. Lisia war mutig und zäh, schnell wie der Wind, wenn es sein musste, und stark wie ein Bär, doch die weite Reise hatte sie erschöpft.
Auch an dem dritten Tor, das in den innersten Bereich der Burg führte, fragte ihn niemand, wohin er wollte und was er in der Burg zu suchen hatte. Er stand sozusagen vor der Tür des Königs, aber niemand scherte sich um ihn. Dabei sah er gewiss nicht wie ein hoher Herr aus. Seine Kleidung war staubig von der achtzehntägigen Reise und verriet nichts über seinen gesellschaftlichen Stand. Nicht, dass Agnus darauf Wert gelegt hätte. Ganz im Gegenteil, es war ihm sogar angenehmer, wenn niemand wusste, wer er war.
Er wechselte lieber ein offenes Wort mit einfachen Menschen, als mit hohen Herren höfliche Heucheleien auszutauschen.
Agnus fand einen Trog und stellte ihn neben dem Brunnen ab, dann löste er den Haken der Brunnenkette und ließ den Eimer in die Tiefe fallen. Im Wildmoortal waren die Brunnen flach, aber hier sah er den Wasserspiegel kaum. Als der Eimer auf dem Wasser aufschlug, hörte Agnus nur ein dumpfes Geräusch. Mühsam kurbelte er ihn wieder hoch, packte die schaukelnde Kette und hievte den Eimer über den Rand, wo er erst für sein Pferd sorgte, ehe er selbst durstig trank.
»Gibt es dort, wo du herkommst, kein Bier?«
Agnus verschluckte sich beinahe vor Schreck, als er die Stimme hinter sich hörte. Er setzte seine grimmigste Miene auf.
»Bei mir zu Hause werden Gäste am Tor empfangen und müssen sich nicht ihr Wasser mit den Pferden teilen«, knurrte er und drehte sich langsam um. Etwas verwirrt durch die vornehme Kleidung, die nicht zu der saloppen Wortwahl seines Gegenübers passte, deutete er eine Verbeugung an.
Der andere lachte und streckte Agnus die Hand entgegen.
»Walter Vogelsang«, sagte er, besah sein Gewand und fügte hinzu, »Hofmusiker. Ich soll heute noch vor der Gesellschaft des Königs spielen und habe mich ein wenig feingemacht.« Jetzt erst bemerkte Agnus die Laute, die über der Schulter des anderen hing, und ein Lächeln erhellte seine Miene.
»Agnus aus dem Wildmoortal«, stellte er sich vor. »Gegen ein Bier hätte ich nichts einzuwenden, wenn du mir sagst, wo ich eins bekommen kann.« Er klopfte seiner Stute leicht den Hals. »Aber erst muss mein Pferd in einen Stall. Über etwas Heu würde es sich auch freuen.«
»Liegt alles auf unserem Weg. Folge mir«, erwiderte Walter Vogelsang.
Sie verließen den inneren Bereich der Burg durch ein kleines Tor am hinteren Ende und kamen auf einen schmalen Weg, der zwischen der äußeren und der inneren Burgmauer verlief und in die Vorburg führte. Zuerst ging es steil bergab. Dann öffnete sich der Weg zu einem leicht abfallenden Platz, um den mehrere ineinander geschachtelte Häuser standen.
Walter Vogelsang verschwand durch eine der Türen. Etwas unschlüssig blieb Agnus stehen, doch da tauchte der Musikant wieder auf und winkte ihn zu sich.
»Komm nur mit«, rief er.
»Aber …«
»Da ist ein Platz für dein Pferd.«
Hinter der Tür befand sich ein enger, gepflasterter Gang, der rechts und links von Häusern begrenzt wurde. Dahinter lag ein winziger Garten, rechterhand ein kleiner Stall. Zwei Ziegen und ein Pferd standen darin.
»Wem gehört denn dieser kleine Bauernhof?«, fragte Agnus belustigt.
»Meiner Mutter«, antwortete Vogelsang. »Das Pferd gehört mir«, fügte er eitel hinzu.
»Ich danke dir und deiner Mutter im Namen meines Pferdes für eure Gastfreundschaft«, sagte Agnus, als sich Lisia genüsslich über das Heu hermachte. Sie war deutlich größer und kräftiger als Walter Vogelsangs Schimmel. Lisia schnaubte zufrieden, als Agnus ihr zum Abschied zärtlich auf das Hinterteil klopfte.
»Und jetzt kommen wir zu deinem Bier«, sagte Walter Vogelsang gut gelaunt.
Sie traten auf den kleinen Platz. Agnus blinzelte in die Sonne.
»Wohnst du da? Bei deiner Mutter?«, fragte er und versuchte zu erraten, wie alt der Barde sein konnte. Er war nicht besonders groß und knabenhaft um die Brust, aber er hatte eine Stimme, die ihn reifer wirken ließ.
»Eine Kammer bei ihr habe ich noch«, erwiderte Vogelsang leichthin. »Die Gesellschaften, die der König veranstaltet, häufen sich nicht gerade, und die guten Zeiten, in denen ein Barde immer sein Auskommen bei Hofe hatte, sind leider vorbei.«
»Vor allem, wenn er sich teure Kleidung und ein Pferd leistet«, bemerkte Agnus trocken.
Walter grinste spitzbübisch und flüsterte dann verschwörerisch: »Der König sollte sich trotzdem etwas mehr Spaß gönnen und vor allem nach einer neuen Frau Ausschau halten, statt immer nur im stillen Kämmerlein mit diesem schauderhaften Grießgram zu brüten.«
Ganz schön waghalsig, der junge Walter, dachte Agnus. Einfach mit einem Wildfremden über den König und seinen Berater zu lästern, könnte leicht ins Auge gehen, vor allem, weil der König nicht gerade als offenherziger Mensch bekannt war. Ob der König wieder heiratete oder nicht, war Agnus an sich aber herzlich egal. Seiner Meinung nach wäre es ohnehin besser gewesen, er hätte es überhaupt nie getan. König Levian hatte einfach nur das Glück gehabt, Eleonore, die einzige Tochter des letzten Königs Willibald IV. heiraten zu dürfen. Als der alte König einige Monate nach der Hochzeit starb, bestieg Eleonore hochschwanger den Thron. Sie gebar einen Sohn, der kaum eine Woche überlebte. Königin Eleonore folgte ihm nur wenige Tage später. Daraufhin wurde Levian zum König gekrönt. Böse Zungen behaupteten, dass er, Sohn einer adligen Familie aus dem Nachbarland Mendeor, ohnehin nur das Königreich gewollt hatte, und nicht die hässliche Eleonore.
»Du bist schweigsam, Fremder«, riss Walter Agnus aus seinen Gedanken. »Erzähl, was führt dich in diese trockene Gegend? Haben dich die Mücken aus den Sümpfen vertrieben?«
»Wenn die Mücken meine Sorge wären, dann wäre ich zu Hause geblieben. Da ist die Luft nicht so staubig, und es ist auch bei weitem nicht so hektisch wie in diesem Bienenstock«, knurrte Agnus zurück.
»Ich merke, du