Die große Familie, in der er aufgewachsen war, war nicht seine. Er hatte keine Eltern und keine Geschwister. Er war allein. Ganz allein.
Blind starrte er auf den Schlüssel in seiner Hand. Dass er der Erbe der alten Könige sein sollte, hatte er noch nicht begriffen. Es gab nur den Namen seines Vaters, eines Mannes, den er nicht kannte und von dem er nichts wusste, außer, dass er tot war. Tot wie seine Mutter – und er war alleine.
Es gab nur noch Philip – und noch nicht einmal das. Sein Name war Philmor, und Philmor war ein ganzes Jahr älter als Philip.
Was blieb jetzt noch von ihm übrig? Früher hatte er manchmal Kraft daraus geschöpft, zu wissen, wer er war und wo er herkam. Doch jetzt gab es das alles nicht mehr. Plötzlich hatte er keine Vergangenheit mehr … und keine Zukunft.
Dekan Resilius verneigte sich vor ihm und sagte »mein König«, aber Philip konnte damit nichts anfangen. Er ließ den Schlüssel fallen, sprang auf und rannte davon. Die Lichtung hielt ihn gefangen. Dunkler, verfilzter Wald, der nirgendwo hinführte, und der nahe Abgrund waren seine Wächter. Vor dem abfallenden Hang blieb Philip stehen und sah in die Ferne.
Ein silberner Streifen zeichnete sich am Horizont ab. Nach und nach wuchs eine milchige Sonne aus dem Boden.
Unverwandt sah er ihr zu, wie sie Zoll um Zoll höher stieg und runder wurde.
»Deine Urgroßmutter, meine Tochter Helena, stand morgens oft auf einer Anhöhe und sah der Sonne beim Aufgehen zu. Sie sagte, dass sie in dieser stillen Morgenstunde ihren Liebsten, und damit meinte sie dich und Josephine, am nächsten wäre.«
Philip drehte sich zu Frendan’no – dem Elben, der sein Ururgroßvater war – um. In seinem Gesicht stand eine hilflose Frage, die seine Lippen nicht erreichte.
»Ich wusste bis vor Kurzem nichts von der Bestimmung deines Vaters«, erklärte der Elbe. »Alles, was ich über ihn wissen wollte, sah ich in seinen freundlichen grünen Augen und in der Liebe, die er deiner Mutter und dir entgegenbrachte.«
Bei dem Wort Mutter zuckte Philip zusammen. Seine Mutter war Josephine. Sie hatte seine Tränen getrocknet und seine Wunden versorgt. Sie hatte an seinem Bett gesessen, und unter ihre Decke war er geschlüpft, wenn ihn wilde Träume aus dem Schlaf rissen. Sie hatte ihn angelogen.
»Ich verstehe deine Trauer und ich spüre deinen Schmerz. Du glaubst, alles verloren zu haben, aber so ist es nicht. Josephine hat dich vergöttert und sie tut es heute noch. Ich war zufrieden damit, dass sie dich zu sich nahm. Es war richtig so. In meinem Herzen haben Felicitas und Josephine immer den gleichen Stellenwert gehabt. Zürne ihr nicht. Sie hätte es dir bestimmt selbst gesagt, doch die Zeit ist ihr dazwischengekommen. Phine erfuhr auch erst am Tag ihrer Verlobung von meiner Existenz.« Frendan’no machte eine kurze Pause. »Ein Geheimnis zu bewahren, ist eine Last, doch irgendwann gewöhnt man sich daran und es wird schwer, den Moment zu finden, an dem es Zeit ist, es zu lüften. Ich bin mir sicher, dass sie dich schützen wollte, indem sie dir die Last dieses Geheimnisses ersparte. Du wurdest ihr Kind, möglicherweise hatte sie Angst davor, dich zu verlieren.«
Frendan’nos Worte vermochten Philips Schmerz nicht zu lindern, sie zügelten nur seine Wut. Die Trauer blieb. Bei seiner Mutter … bei Phine, verbesserte er sich, konnte er sich zumindest noch einreden, dass sie eine nahe Verwandte war, aber wer war Feodor? Wer war der stille Mann mit den großen, rauen Händen? Wer war der Mann, der ihn im wilden Galopp über die Streuobstwiese getragen hatte, so wie er es heute noch manchmal mit den Zwillingen machte? Er war doch sein Vater! Und doch war er es nicht. Was hatte Feodor gesagt, als er Philip das Kettenhemd überreichte? Philip grübelte, aber die Worte wollten ihm nicht einfallen. Es war das letzte Mal, dass er seinen Vater gesehen hatte, aber die Worte fielen ihm nicht ein.
Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten um, als ob er sie noch irgendwo finden könnte. Der Kloß in seinem Hals wurde immer dicker. Fast hatte er das Gefühl, er müsste daran ersticken.
Wie durch einen Schleier sah er die Gestalten bei den Zelten. Olaf, der sich gähnend am Hinterkopf kratzte und dann erstaunt vor dem Eingang des Zeltes stehen blieb, als er merkte, dass sich über Nacht einiges draußen verändert hatte. Leron’das, der sich mit Dekan Resilius unterhielt, zwei weitere Elben, die aus einem der Zelte kamen und aus der Glut wieder ein kleines Feuer entfachten.
Die Sonne stieg höher und löste sich aus dem Dunst. Ihre Strahlen streiften die Hügel und Täler, brachten Bäche zum Glitzern und Wiesen zum Leuchten.
Philip hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, keinen Halt mehr in dieser Welt. Er sah nicht die Hand, die Frendan’no ihm reichte und auch nicht die ratlosen Gesichter der anderen, als er an ihnen vorbei in das Zelt stürmte und sich die Decke über den Kopf zog.
»Hör zu! Langsam wird mir das ganze Theater hier unheimlich.« Olaf saß auf den Boden und sah Philip an. Dieser lag seit fast zwei Tagen nur teilnahmslos auf dem Rücken und starrte den weißen, spinnwebfeinen Vorhang über seinem Bett an, als ob er all die Weisheit dieser Welt in ihm zu finden glaubte.
»Du liegst da und sagst kein Wort. Die Schönen huschen wie Schatten über die Wiese und beachten mich kaum. Ich bin doch kein Schaf, aber so komme ich mir vor. Wenn ich bäh mache, erhalte ich ein wohlwollendes Lächeln, wenn ich etwas frage, geschieht das Gleiche. Niemand spricht mit mir. Niemand sagt mir, was los ist. Selbst dieser Leron’das, der am Anfang noch beinahe normal wirkte, wird immer eigenartiger, seit der Dekan Resilius sich auf den Weg nach Eberus gemacht hat.« Olaf seufzte. »Du antwortest mir noch nicht einmal, wenn ich mit dir spreche.« Er räusperte sich. »Was ist denn geschehen? Resilius sagte mir, ich solle dich fragen, denn ihm würde es nicht zustehen, darüber zu reden. Das ist auch so etwas! Ich bin ein einfacher Mann. Ich spreche selbst unseren Dorfprediger mit Hochwürden an, aber Resilius sagt, ich gehöre jetzt zum Kreis des Vertrauens … Verstehst du das? Er ist der zukünftige Episkopos von Corona, der wichtigste Mann der Kirche nach dem Archiepiskopos und Gott, und er sagt: Sag Du zu mir, ich heiße Resilius. Ich kann damit nicht umgehen. Wenn ich zu Hause bin und Du zum alten Gerus sage, dann zieht er mir heute noch die Ohren lang, wie damals als Kind, als ich auf dem Friedhof hinter den Grabstein gepinkelt habe.«
Philip rührte sich immer noch nicht.
Olaf stand auf. »Sprich wieder mit mir. Sag mir, was ich tun soll.« Er wandte sich ab und ging zum Ausgang. Als er die Zeltklappe zurückschlug, murmelte Philip:
»Es tut mir leid.«
Olaf blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Hast du was gesagt?«
Philip richtete sich auf und sah Olaf an. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht weiter. Ich bin verwirrt. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Mir brummt der Kopf.«
»Ist schon gut, lass dir Zeit, ruh dich aus«, lenkte Olaf ein.
»Ich werde dir sagen, was geschehen ist. Ich bin es dir schuldig.« Philip setzte sich jetzt aufrecht hin, sah Olaf eine Weile traurig an und senkte dann den Blick zu Boden.
»Ich habe erfahren, dass ich nicht der bin, der ich zu sein glaubte. Meine Eltern sind nicht meine leiblichen Eltern, denn die starben kurz nach meiner Geburt.«
Olaf setzte sich neben Philip. »Das tut mir leid. Heißt das etwa, dass du nicht der Baron von Wasserfurt bist?«
Philip zuckte mit den Schultern. »In gewisser Weise heißt es das.«
»Es geht um Arina … ich meine, um die junge Gräfin. Stimmt’s! Du glaubst, dass der Graf sie dir jetzt nicht mehr zur Frau gibt? Wenn es darum geht, ich schweige wie ein …«
»Darum geht es nicht. Ihr Vater weiß, dass ich kein Baron von Wasserfurt bin. Er wollte, dass ich einer werde. Es ging nur darum, dass mich auf der Reise keiner erkennt. Hast du es denn vergessen? Der König und der Zauberer suchten nach mir, als ich in der Säbelau ankam.« Philip zuckte erneut mit den Schultern.