Sein jetziger Vermieter hatte sämtliche Hühneraugen zugedrückt und ihm diese kleine Unterkunft ohne Mehrkosten angeboten, welche Lilian unaussprechlich dankbar angenommen hatte.
Und nun sollte dieser Spießrutenlauf von vorn beginnen?
Das ertrug er nicht mehr – selbst ohne Sabrinas Gekeife und den missfallenden Blicken verschissener Kollegen.
Verflucht …
Nun … zumindest blieb ihm die Arbeitssuche erspart.
Kurz nach Erhalt dieser Wohnung war es ihm nämlich möglich gewesen, eine Stelle in einem nahe gelegenen Baumarkt anzunehmen und dieser zusammengeschweißten, dekadenten, überheblichen, grausamen Bagage endgültig zu entfliehen. Zwar arbeitete er bloß in der Gartenabteilung – nichtsdestotrotz gefiel es ihm. Er mochte Pflanzen, hatte seit jeher ein Händchen dafür gehabt. In seinen Kindheitstagen hatte er oft im Garten seiner Eltern gespielt. Im Gegensatz zu seiner Mutter hatte sein Vater ihm einiges Wissenswertes über Kräuter, Blumen, Obst und Gemüse nähergebracht. Seine Mutter hasste den Garten, den wild wuchernden Efeu, die üppigen Obstbäume, die hochgewachsenen Gräser, die unzähligen Gemüsesorten. Für sie bildete eine jede Pflanze eine Belastung und unmöglich zu zähmendes Chaos. Lilian hatte die Farbenpracht geliebt, insbesondere die blühenden Bäume im Frühling. Wie eine verborgene Märchenwelt hatte der zweitausend Quadratmeter große Garten angemutet. Die durch die Lüfte tänzelnden Schmetterlinge, die summenden Bienen, die zwitschernden Vögel – ein Paradies auf Erden.
Alsbald er nun in die Arbeit kam, die unzähligen exotischen Pflanzen sah, fühlte er sich zurückversetzt in diese zu kurz geratene Zeit der Unbeschwertheit.
Da er zudem jahrelange Erfahrung im Office-Management besaß, war er für den Papierkram in seiner Abteilung verantwortlich. Dadurch durfte er überdurchschnittlich oft und viel im Büro sitzen und Dokumente, Abschriften und Bestellungen abarbeiten. Ein weiteres Tätigkeitsfeld stellte das Zuliefern übergroßer Gewächse wie Bäume oder Palmen dar. Manchmal spielte er den Pflanzenchauffeur, manchmal erledigte dies ein Kollege.
Alles in allem gefiel ihm sein neuer Job. Sein Leben hatte dadurch – von all den anderen Schwierigkeiten einmal abgesehen – halbwegs erträgliche Züge angenommen.
Bis zu diesem Augenblick.
Jetzt sollte er neuerlich auf der Straße landen … womöglich verlöre er dadurch überdies seine Anstellung!
Irgendwann und nach Verdrängung einer auffachenden frischen Übelkeitsattacke fielen ihm endlich Worte ein.
»Wann genau muss ich aus der Wohnung draußen sein?«
»Es wäre der Dame sehr geholfen, wenn Sie innerhalb eines Monats ausziehen.«
»Ein Monat?!«
Lilian wurde es abermalig schwindlig.
Um ein Zu-Boden-Gehen zu verhindern, lehnte er sich an die minimalistische dunkelgraue Küchenarbeitsplatte.
»Wie soll ich in solch kurzer Zeit eine neue Wohnung finden?«
Herr Truppe wrang entschuldigend die Hände. »Eine Möglichkeit wäre das Ansuchen bei einer Genossenschaft. Dringliche Fälle erhalten üblicherweise kurzfristig eine Unterbringung.«
Ja, eine Unterbringung in einer vom Schimmel verseuchten Einzimmerwohnung, die Blick auf eine Müllverbrennungsanlage bot oder sich in einem Gettoviertel befand. Und von dem einzuzahlenden Bau- und Grundkostenbeitrag sprach er noch gar nicht!
Eine Genossenschaftswohnung konnte er sich nicht leisten – die Miete ja, die anfallenden Unkosten vor dem Einzug nein.
Kredit wollte er dafür keinen aufnehmen! Sein Wagen würde es nicht mehr lange machen, da musste er sich genügend Spielraum für ein Leasing offenhalten.
Zu seinem Leidwesen war er kein stereotypischer Handwerker. Ihm fehlte das notwendige Geschick und erst recht die Geduld, sich mit Feinarbeiten herumzuplagen. Winzige Schrauben in noch winzigere Öffnungen reinzudrehen oder ihm nach wie vor unverständliche Drehmomente mit einem Drehmomentschlüssel einzustellen bereitete ihm übermäßiges Kopfzerbrechen. Sein Ford Transit, eine Schatzkiste für Schrauber und Hobbybastler, war dahingehend ein Paradebeispiel seiner Unfähigkeit. Laut des Verkäufers – Lilians türkischstämmiger fünfundfünfzigjähriger Nachbar mit den zurück gegelten Haaren, dem voluminösen Bierbauch und dem berühmten Arbeitslosen-Outfit: Dem fleckigen Feinripp-Unterhemd in Kombination mit Schlabberhosen und ausgelatschten Turnschuhen – sollten die Fettnippel des Fahrzeugs am besten alle zwei bis vier Monate abgeschmiert werden.
Lilian war blöd genug gewesen … nein, vielmehr hatte sein vermaledeites Ego ihn dazu überredet, es selbst zu versuchen, anstatt eine Werkstätte aufzusuchen.
Zuallererst hatte er dieses Riesentrumm eines Vans mittels eines wackeligen Wagenhebers immens hoch aufbocken müssen, um zu diesen vermaledeiten Nippeln zu gelangen. Da er keine Fettspritze besaß – woher auch? Er war ja kein Mechaniker –, hatte Lilian sich kurzerhand ein solches fremdartiges Gerät von seinem dauergrinsenden Nachbarn ausgeborgt, sich anschließend ähnlich in Schale geworfen wie Letztgenannter Kebabfan und sich unter das Fahrzeug gelegt.
Ohne übertreiben zu wollen, Lilian hatte Todesängste ausgestanden. Jede Sekunde rechnete er damit, von dem Fahrzeug erschlagen oder erdrückt zu werden. Und erst der Schmutz und der von oben auf ihn herabsegelnde Rost …
Na, wie auch immer. Lilian hatte lange überlegt, inspiziert, die Spritze angesetzt, und schlussendlich zu pumpen begonnen. Erwartungsgemäß landete das Fett überall: auf seinem verfärbten Hemd, auf seiner zerschlissenen Trainingshose, auf seinen – neuen! – Schuhen, in seinem Gesicht, in seinen gottverdammten Haaren – er hatte Ewigkeiten gebraucht, um das zähflüssige Zeugs auszuwaschen – und last but not least, auf dem Unterboden … nur nicht in diesen verfluchten, elendigen, verkackten Fettnippeln!
Dies war und blieb sein erster Versuch, sich mit hochkomplexen Reparaturen und Servicearbeiten abzumühen. Der im Frühjahr und Herbst anstehende Reifenwechsel, welchen Lilian ausschließlich aufgrund Geldersparnis selbst durchführte, reichte ihm zur Genüge und brachte ihn zumeist ebenfalls an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Ein Neuwagen stellte somit die einzige logische Wahl dar – obwohl er kein Freund von Finanzierungen war. Er hasste Banken, freundlich ausgedrückt – im speziellen Bänker. Sie waren die Aasgeier unter den Menschen. Ähnlich wie Autoverkäufer und Versicherungsmakler.
Sie schmeichelten, sie lockten, sie logen wie gedruckt.
Lilian musste sich eingestehen, auf eine verrückte Weise ähnelte diese Personengruppe seiner verfluchten Ex-Frau.
Ihn erfasste ein heftiger Schüttelfrost.
»Ich würde Sie niemals so kurzfristig aus der Wohnung jagen, wäre es nicht ein Notfall«, beförderte die reuevolle Stimme des Vermieters ihn in die brutale Wirklichkeit zurück. »Zu meiner Schande weiß ich nicht, wo ich meine Nichte ansonsten unterbringen soll. Es ist Ihnen bekannt, ich besitze vier Wohnungen. Zwei davon sind von syrischen Flüchtlingen belegt, welche durch die Stadt mir zugeteilt wurden und der Mietvertrag deshalb unmöglich vorzeitig gekündigt werden kann. Ihr türkischer Nachbar wohnt seit mindestens sieben Jahren hier. Ihn kann ich genauso wenig vor die Tür setzen. Insbesondere mit seinen drei kleinen Kindern nicht. Sie, Herr Gruber-Steiner sind die einzige Chance, damit ich meiner Nichte helfen kann.«
Super!, dachte Lilian giftig. Ausländer erhalten anstandslos Hilfe, ich dagegen werde rausgeschmissen!
»Kann Ihre Nichte nicht bei einer guten Freundin unterkommen?«
Seit jeher scharrten Weiber zig Leute um sich! Sie tratschten, sie plapperten,