Nachdem er das Gerichtsgebäude verlassen hatte, war diese eigenwillige Leichtigkeit zu schierer Beschwingtheit herangewachsen.
Endlich war er frei. Frei und selbstbestimmend. Keine Frau konnte ihm mehr Vorschriften machen, ihn diffamieren oder bloßstellen. Nun würde er sein Leben genießen – ausnahmslos auf seine Weise.
Trotz dieses kostbaren süßen Gefühls in ihm wusste er: Es lag noch ein harter Weg vor ihm, bis dieser Neubeginn auch in seiner Seele Einzug gefunden hätte.
Er fuhr nach Hause, oder besser gesagt, in seine einstweilige Behausung: eine kostengünstige Vierzig-Quadratmeter-Mietwohnung am stark frequentierten Südring.
Neben der minimalen Größe und der ständigen Lärmbelästigung – die hochgelobte Dreifachverglasung half kaum etwas – musste die Behausung überdies mit Strom beheizt werden. Ein finanziell zukünftig nicht mehr zu bewältigender Umstand, wenn er an die Stromnachzahlung im März zurückdachte.
Lilian war sich bewusst, er musste umziehen. Je eher, desto besser, zumal sein Mietvertrag mit Ende September ablief und er sich nicht sicher war über eine Verlängerung.
Egal.
Dieser Problematik würde er sich in den kommenden Wochen annehmen. Nun musste er sich erst einmal von den seelischen Strapazen erholen. Konkret duschte er lange und siedend heiß und gammelte auf der Couch vor laufendem Fernseher herum. Er besaß keine Energie mehr, sich für sportliche Aktivitäten zu erheitern oder durch die Stadt zu bummeln.
Sabrinas Anschuldigungen hatten ihm seine noch übrig gebliebenen Kraftreserven geraubt.
Einst hatte er es geliebt, im stadtnahen Hallenbad seine Runden zu ziehen. Drei Kilometer an einem Stück in einer Stunde – das perfekte Fitnessprogramm.
Damit angefangen hatte er, um seine nicht übermäßig üppig ausfallende Muskelmasse zu erhöhen …
Die letzten sechs Monate jedoch brachte er es nicht einmal mehr zuwege, einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen.
Zum Glück hatte seine Figur nicht großartig unter dem Bewegungsmangel gelitten.
Sobald es mir etwas besser geht, werde ich das Training wieder aufnehmen, dachte er, schloss die Lider und entglitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf … welcher durch das nervtötende kratzende wie scheppernde Klingeln des Türmelders abrupt beendet wurde.
Schweißausbrüche und irrsinniges Herzrasen lähmten Lilian.
Er versuchte sich zu erheben. Es gelang ihm nicht. Sein Körper gehorchte ihm noch nicht.
Erneut wurde die Türglocke betätigt, Stromstöße durchfuhren seine Muskeln und Sehnen.
Verflucht noch einmal!
Da hätte er einmal etwas Schlaf nachholen können, und sofort wurde er durch Besuch massakriert!
Übelkeit und Kopfschmerzen setzten ein.
Er schluckte, atmete einige Male kräftig durch und stemmte sich verzweifelt hoch.
Ein drittes Mal klingelte es.
Das Geräusch stellte ihm ein jedes einzelne gottverdammte Haar auf.
Er hasste diesen Lärm! Er hasste diesen verschissenen Türmelder! Er hasste sein verfluchtes unstetes Leben!
Seit einem halben Jahr hatte er keinen Besuch mehr verzeichnet! Aber nun, wenn er einmal schlafen wollte – und es ihm sogar einzuschlafen gelungen war –, musste irgendein Vollidiot an seiner Tür Sturm läuten?!
Silberne Punkte vor seinem Gesichtsfeld hüpften quickfidel umher, zu seiner sich hebenden und senkenden Schädeldecke gesellte sich ein ausgeprägter Schwindel.
Klasse!
Dies hätte ihm eben noch gefehlt – zusammenzubrechen aufgrund eines verschissenen unangemeldeten Besuchs!
Unkoordiniert taumelte er quer durch das winzige Schlafzimmer hinaus auf den ungleich winzigeren Flur.
In der gegenwärtigen Situation war er dankbar für dieses Rattenloch. Dadurch konnte er sich zumindest an Schränken und Wänden festhalten, um nicht elegant über seine eigenen Füße zu stolpern und mit der Hackfresse voraus auf den dunkelbraunen verschlissenen Parkettboden zu knallen …
Ja, der Boden benötigte seit Langem eine Intensivbehandlung durch Politur und Einscheibmaschine.
Nun, damit konnte sich sein Vermieter herumplagen! Schließlich hatte Lilian keine einzige der unzähligen Abnützungserscheinungen verursacht, unter anderem Risse, blasse Stellen und tiefe Einkerbungen.
Zittrig langte er nach dem sich im Mantel befindenden Schlüsselbund, steckte diesen in das Schlüsselloch, welches von einem abgegriffenen silbrigen Langschild aufgehübscht wurde, und öffnete die Eingangstür.
Wenn man vom Teufel spricht …
»Guten Tag Herr Gruber-Steiner«, wurde er von seinem kleinwüchsigen Vermieter mit Namen Gernot Truppe begrüßt. »Komme ich ungelegen?«
Nein, überhaupt nicht, dachte er entnervt. Ich konnte bloß einmal in drei Monaten halbwegs friedlich durchschlafen.
Wie lange hatte er eigentlich geschlummert? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde?
»Nein, nein. Kommen Sie herein.«
Der um die fünfzig angesiedelte deformierte Mann mit der Halbglatze, dem übermäßig groß geschnittenen dunkelbraunen Hosen und dem Trachtenhemd watschelte an ihm vorbei in die – hatte irgendjemand etwas Gegenteiliges erwartet? – winzige Küche.
»Ursprünglich wollte ich Ihren Mietvertrag verlängern«, sprach dieser nüchtern. Ein Beschwichtigung andeutender Unterton sowie die ausgesprochenen Worte an sich ließen Lilian Fürchterliches bis Katastrophales erahnen.
»Eine Nichte meinerseits benötigt dringend eine kurzfristige oder auch längerfristige Unterkunft. Sie ist im siebten Monat schwanger, ihr Freund hat die Beziehung beendet und sie aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Kurz und knapp: Ich bin gezwungen, unseren Vertrag vorzeitig aufzukündigen.«
Lilian rang um Nervenstärke, Begriffe und Sauerstoff.
Um in den Genuss dieser Wohnung zu kommen, hatte er geschlagene drei Monate gesucht, gebettelt, gebetet und während dieser Zeit teilweise in seinem rostigen Ford oder bei seinem Kumpel Mike übernachtet.
Die Eskapaden seines damaligen Arbeitgebers – Sabrinas Vater –, Kollegen und Freunde seiner verschissenen zukünftigen Ex-und der nächtliche Telefonterror hervorgerufen durch Letztgenannte hatten diese drei Monate zu den bislang schlimmsten seines abgewrackten Lebens gemacht.
Tagsüber das Mobbing und fürchterliche Gerede von Kollegen und Chef, dazu die Anspielungen, Anklagen, mahnenden und angeekelten Blicke der gesamten Belegschaft sowie das eiskalte Ignorieren vonseiten Sabrina, alsbald Lilian ihr ein Schriftstück brachte oder eine Unterschrift benötigte … abends folgten die Vorwürfe und Drohungen, dazu gesellte sich das unerträgliche Suchen und sich Vorstellen bei unzähligen Vermietern sowie Firmen – immerhin hatte er eine neue Arbeit ebenso benötigt wie eine eigene Wohnung, wenn er Abstand zu Sabrina halten wollte …
O Gott … es war eine einzige Tortur gewesen.
Diese Zeit wollte er nicht noch einmal durchleben müssen. Doch wenn Herr Truppe ihn hinauswarf, würde der Weg höchstwahrscheinlich in eine ähnliche Richtung führen.
Lilian wurde es außerordentlich blümerant.
Freilich, es gab dutzende leerstehende Wohnungen von Privatvermietern. In kaum fünf Sekunden war es möglich, eine halbwegs passende Behausung im Umkreis von fünfzig Kilometern zu finden. Mieter zu werden, einen Vertrag aufsetzen zu dürfen dagegen stellte eine schier unlösbare