Aus smarter Silbermöwensicht. Martina Kirbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Kirbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754182710
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Ausdauer bei Aktivitäten im Freien beeindruckten Anja. Gerade hatte er den Fußball für sich entdeckt. Auf die Schule hatte er sich unheimlich gefreut und war sehr gerne in die erste Klasse gegangen. Anfangs hatte er bereitwillig die Hilfe seiner älteren Schwester angenommen, wenn er vergessen hatte, wie die Hausaufgaben zu erledigen waren. Jetzt, in der zweiten Klasse, war die Begeisterung verblasst, immer häufiger schimpfte er über die Übungen oder auch über seine Mitschüler. Anja hielt das für relativ normal.

      »Frau Sonnenfeld, gut, dass Sie anrufen. Wir müssen uns unbedingt über Phillip unterhalten. Ich weiß gar nicht, was mit ihm los ist. Im Unterricht fängt er eine Aufgabe an, bearbeitet sie oberflächlich oder unvollständig und springt unvermittelt zur nächsten. Dann kehrt er zur ersten zurück, weil er merkt, dass diese leichter zu lösen und oftmals Voraussetzung für die Folgeaufgaben ist. Am Ende hat er kein Ergebnis vorzuweisen und ist frustriert.«

      »Ist es wirklich so schlimm?«

      »Na ja, im letzten Jahr ging es, da kannte er vieles von der Vorschule. Seit den Osterferien wird es zunehmend problematischer. Hat sich etwas an ihrer häuslichen Situation verändert?«

      »Eigentlich hat sie sich verbessert. Wir sind umgezogen, innerhalb desselben Stadtteils, und ich habe eher das Gefühl, dass ihm die größere Wohnung guttut. Er hat jetzt sein eigenes Zimmer.«

      »Ja, ich weiß auch nicht. Vielleicht reicht es ja vorerst einmal, wenn Sie regelmäßiger seine Hausaufgaben kontrollieren. Das ermöglicht es ihm, bei Stundenbeginn ein paar Erfolgserlebnisse zu haben.«

      »Das werde ich tun.«, versprach Anja kleinlaut. Den vorwurfsvollen Unterton in Frau Vittels Stimme hatte sie sich nicht eingebildet.

      Trotz Anjas Versprechen, regelmäßiger Phillips Hausaufgaben zu überprüfen, vergaß sie just am selben Abend, die Kinder überhaupt nach der Schule zu fragen. Gott sei Dank war erst Sonnabend, sodass sie am Sonntag noch die Chance hatten, die nächste Woche vorzubereiten. Wie naiv war sie gewesen zu erwarten, dass, nur weil Clara keine Schulprobleme hatte, es bei Phillip ähnlich laufen würde! Am Ende des zweiten Schuljahres würde es, statt eines Notenzeugnisses, wieder einen Lernentwicklungsbericht geben. Der letzte, erinnerte sich Anja dunkel, hatte vielversprechend geklungen. Doch, hatte sie die Formulierungen dieses notenfreien Zeugnisses richtig interpretiert? Der warnende Unterton der Klassenlehrerin beim letzten Telefonat stand hierzu im krassen Gegensatz. Mit der mahnenden Stimme von Frau Vittel tauchten bei Anja unliebsame Bilder aus ihrer eigenen Schulzeit auf: Wie ein Biolehrer plötzlich hinter ihr stand und ihr das Heft entriss, in welchem sie zig winzige, wunderschöne bunte Fische gezeichnet hatte. Und wie er das Heft in der ganzen Klasse herumgezeigt und höhnend gefragt hatte, was das mit dem Stundenthema zu tun hätte. Und die Worte: »Solche Fische gibt’s nicht. Die Anatomie ist völlig falsch. Falsch. Falsch!«, klang ihr heute noch im Ohr. Es war genau an diesem Tage, dass sie selbst am Kunstunterricht den Spaß verloren hatte.

      Helfersyndrom

      Seb hatte sich ausnahmsweise den Wecker gestellt, da er seinen alten, rostigen Golf vor dem TÜV in der Werkstatt durchchecken lassen wollte.

      Am Geschirrberg konnte er ablesen, dass Anja und die Kinder wieder in Hektik die Wohnung verlassen hatten. Okay. Kurz entschlossen räumte er die Geschirrspülmaschine ein, putzte den Herd, wischte die Krümel vom Tisch und stellte die Müslisachen an ihren Ort. So sah die Küche gemütlich und einladend aus. Ob Anja es bemerken würde? Auf dem Weg vorbei am Badezimmer fielen ihm die mittelgroßen Haufen schmutziger Wäscheteile auf, die dort auf dem Boden verteilt lagen - die meisten davon seine. Oh nein, dies konnte er jetzt nicht auch noch erledigen. Der Werkstatttermin war wichtiger.

      Auf dem Weg zum Auto traute Seb seinen Augen nicht. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig schlenderte eine ihm vertraute Gestalt: Sein ehemaliger Studienfreund Max, der sich trotz weißem Hemd, Sakko und Schnürschuhen betont lässig gab.

      »Mensch Max!«, rief Seb über die Straße, »Was machst du denn hier?«

      »Dasselbe könnte ich dich auch fragen, «antwortete Max und kam ihm entgegen. »Hey, Alter, du hast dich gar nicht verändert. Kein Geld für den Frisör und immer noch dasselbe Hemd!«

      »Das gleiche, mein Lieber, das gleiche. Du erinnerst dich, dass ich damals fünf davon gekauft habe«, korrigierte ihn Seb. »Lange nicht gesehen. Ich dachte, du wärst in Australien.«

      »War ich auch. Aber jetzt bleiben wir erstmal hier. Inges Arbeitserlaubnis wurde nicht verlängert und da haben wir uns kurz entschlossen, zurück nach Deutschland zu kommen. Das ist schon sieben Monate her.«

      »Warum hast du dich nicht gemeldet, alter Knabe?«, fragte Seb gespielt vorwurfsvoll.

      »Wieso hast du mich nicht in Australien besucht, wie du so groß angekündigt hattest?«, konterte Max. »Ich hab‘ dir immerhin zwei Postkarten geschickt, obwohl ich nicht wusste, ob deine alte Adresse noch aktuell ist. Du wolltest doch damals raus aus Bremen.«

      »Stimmt. Will ich eigentlich immer noch, aber dann ist Anja bei mir eingezogen….«

      »Du hast ‘ne Freundin? Hey, erzähl‘ mal!«

      »Nein, nicht, was du denkst. Ist eher ‘ne WG, ‘ne Zweckgemeinschaft, verstehst du?«

      »Na ja, das hätte ich mir fast denken können. Du und ‘ne Freundin. Du kannst sie mir ja trotzdem mal vorstellen.«

      Seb runzelte die Stirn.

      »Ist was?«, fragte Max scheinheilig und schwenkte, als Seb nicht antwortete, um: »Was hast du inzwischen gemacht?«

      »Nachdem du und Tobi ausgezogen wart, konnte ich die große Wohnung nicht mehr über längere Zeit alleine halten. Ein Jahr lang habe ich die Zimmer an andere Studenten untervermietet, aber es war nie wieder so lustig wie mit euch beiden damals.«

      »Jou, das war ‘ne Zeit, hast du eigentlich inzwischen deinen Master?«

      Seb ignorierte die Frage und fuhr fort: »Ich wollte dann lange Zeit lieber alleine wohnen, hatte aber nicht den Nerv, auf Wohnungssuche zu gehen. Außerdem finde ich es hier im Viertel nach wie vor recht nett.«

      »Kann ich verstehen.«

      »Wie finanzierst du die Bude?«

      »Eine Zeit lang hatte ich ein paar gut bezahlte Jobs, war für einige Firmen die digitale Feuerwehr. Leider haben erfolgreiche, expandierende Unternehmen inzwischen ihre eigenen festangestellten Programmierer oder Subunternehmer.«

      »Ich frag dich jetzt nicht, warum du leer ausgegangen bist.«

      »Ich verstehe es selbst nicht, vermutlich liegt es doch am fehlenden Abschluss. Da kucken die Personalleiter drauf, egal, was man tatsächlich kann. Aber ich komme über die Runden. Anja übernimmt zwei Drittel der Kosten und ist froh, mit ihren Kids mehr Quadratmeter zu haben.«

      »Eine ›bürgerliche Kleinfamilie‹, wie find ich das denn? Wenn mir das einer vor zwei Jahren erzählt hätte!«

      »Glaub‘, was du denkst.«

      »Sag mal, Seb, ich habe mir vor wenigen Tagen einen neuen Laptop gekauft, einige Funktionen sind mir unklar und mein PC spinnt ebenfalls. Könntest du vorbeikommen und mir helfen?«

      Die Situation kam Seb seltsam bekannt vor. Trug er ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Digitale Pannenhilfe 24/7‘?

      »Schon möglich.«

      »Übermorgen?«

      »Wenn‘s sein muss.«

      »Hier, meine neue Adresse, mit der Straßenbahn bist du in zehn Minuten da.«

      »Okay. Übermorgen gegen drei.«

      »Das geht nicht. Da habe ich ein Vorstellungsgespräch. Lieber um 13:00 Uhr. Es macht dir doch nichts aus, wenn es bei uns etwas chaotisch aussieht? Inge hat augenblicklich ihre puristische Phase, möchte sich von allem Überflüssigen trennen und dabei lässt sie keinen Schrank aus.«

      »Das ist mir völlig egal. Meinetwegen um 13:00