Aus smarter Silbermöwensicht. Martina Kirbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Kirbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754182710
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      Anja hatte den Eindruck, dass man an ihrem Arbeitsplatz bei Bedarf unzensiert stöhnen durfte, und so manche Durststrecke überbrückte, weil das Stationszimmer ein Ort war, wo man seine Maske fallen lassen konnte. Zumindest bislang.

      Nur, aus welchen Grund hatte Mona sie letztens so seltsam angesehen? Anschließend hatte ihre Lieblingskollegin erreicht, dass sie beide in die gleiche Schicht kamen, fast so, als ob sie Anja beschützen müsse.

      Anja ging in ihrem Beruf auf. Die Arbeit auf der Pflegestation war anstrengend aber befriedigend. Ihr ursprünglicher Wunsch, Ärztin zu werden, war 1979 entstanden, als im Fernsehen eine Dokumentation über die Aktivisten der Cap Anamur im südchinesischen Meer lief. Diese freiwilligen Helfer retteten tausende Vietnamesen, die dem Krieg in ihrem Land auf dem Meeresweg zu entkommen versuchten, und versorgten sie medizinisch an Bord des Schiffes. Viele Jahre später sah Anja sich, wenn man sie nach ihren Berufswünschen fragte, nach wie vor im humanitären Einsatz. Jetzt kamen erneut Flüchtlinge, nur sah Anja ihre Aufgabe heute mehr an der Seite alter Menschen, die in ihrer Hilfsbedürftigkeit und Hilflosigkeit Ertrinkenden ähnelten.

       Seb

      Anja brauchte mit ihrem gebrauchten, dunkelblauen Skoda Citigo zwanzig Minuten für den Weg zum Seniorenheim. Gern hätte sie Sebastian Tschüss gesagt und ihm etwas über Phillip erzählt, aber sie hatte seine verschlossene Zimmertüre gesehen - ein Zeichen, dass ihr Mitbewohner noch schlief. In ihrer 2er WG gab es nur wenige unumstößliche Regeln. Eine davon war »Eine geschlossene Tür ist eine geschlossene Tür« - eine eindeutige Message.

      Die meiste Zeit waren Anjas und Sebastians Türen jedoch angelehnt, was hieß: Mann oder Frau sind ansprechbar - so hatten sie es vereinbart.

      Sebastian war ein guter Kumpel, nur kam es vor, dass er sich tage- oder auch nächtelang hinter seinem PC verschanzte. Fragte man, woran er arbeite, erklärte er, ein Tool zu schreiben, das ihm angeblich in Zukunft die Programmierarbeit erleichtern werde. Es war für Außenstehende oft nicht ersichtlich, ob diese Zeitersparnis, beziehungsweise Arbeitserleichterung jemals wirksam werden würde. Viele fragten sich ohnehin, was er konkret tat. Auf Nachfragen antwortete Seb, wie ihn seine Freunde nannten, auf eine derart nüchtern sachliche, aber umständliche Art und Weise, dass die meisten das Interesse verloren.

      Anja jedoch, war froh über ihre Zweckgemeinschaft. Nach ihrer Trennung von Jakob suchte sie momentan nichts als Ruhe und äußere Geborgenheit. Sie brauchte einen Ort, an dem sie zugleich loslassen wie auftanken konnte, einen sozialen Raum, in dem sie nicht ständig Phillips Verhalten rechtfertigen musste. Phillip, ihr kleiner ‚Sausebraus‘, ihr abenteuerlustiges, neugieriges Energiebündel. Phillip, erfinderisch, furchtlos, doch leider in den Augen vieler Erwachsener etwas distanzlos. So mancher reagierte auf ihn allergisch, nicht zuletzt ihr Ex.

      Sebastian hingegen kam gut mit ihm klar. Was hatten der 30-jährige Computerfreak und ihr 7 Jahre alter Sohn, der am liebsten draußen war, gemein? Obwohl temperamentmäßig vollkommen gegensätzlich, bestand zwischen den beiden ›Männern‹ eine heimliche Komplizenschaft, die Anja überraschte und freute.

      Als Anja auf den Parkplatz des Seniorenheimes einbog, war sie schon vollkommen in Gedanken bei ihren Schützlingen. Sie wusste, dass einige der Senioren sie sehnlichst erwarteten. »Du bist so lieb, freundlich und fast immer gut gelaunt. Auch verschwindest du nicht wieder so schnell«, hatte die 92-jährige Frau Thoden erst gestern gesagt. Ähnliche Äußerungen bekam Anja häufig zu hören, freute sich darüber und hatte das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.

      Freitags wurden die Heimbewohner üblicherweise einer nach dem anderen gebadet oder hatten die Möglichkeit, mit Unterstützung des Pflegepersonals zu duschen. Das war Routinesache. Heute spürte Anja jedoch sofort beim Betreten der Station, dass etwas in der Luft lag.

      Mona lief mit einem gehetzten Gesichtsausdruck und einem Blutdruckgerät in der Hand an Anja vorbei. Das war doppelt ungewöhnlich, denn normalerweise begannen sie zur selben Zeit ihre Schicht und in aller Regel war Mona die Ruhe selbst. Mit einem »Gut, dass du da bist«, verschwand sie im nächsten Bewohnerzimmer.

      Anja desinfizierte sich ihre Hände und zog ihren Kittel über. Mona war eine examinierte Krankenschwester in dieser Schicht. Schnell hatte sie bemerkt, wie sehr man auf Anja zählen konnte. Sie verstanden sich oftmals ohne Worte und arbeiteten gut und gerne Hand in Hand.

      Dann waren da noch Emma und Marga, zwei gelernte Altenpflegerinnen, die schon seit mehr als 25 Jahren in dem Haus arbeiteten. Ihre Erfahrungen behielten sie für sich. Es war, als umgäbe beide eine unsichtbare Mauer. Viele ihrer Kolleginnen hatten bald gespürt, wie sie selbst unter den Belastungen ihrer Tätigkeit verkümmerten. Sie hatten konsequenterweise aufgegeben und sich einen anderen Job gesucht. Emma und Marga nicht, doch heute lagen für beide Krankschreibungen vor und es gab keinen Ersatz.

      In der Mittagspause versuchten Mona und Anja schnell, die vom Qualitätsmanagement vorgeschriebenen Dokumentationen nachzuholen. Welche Routinekontrollen und Maßnahmen waren erledigt? Waren außergewöhnliche pflegerische Maßnahmen notwendig geworden? Hatten alle Bewohner wirklich genug getrunken? Die langen, unübersichtlichen Dokumentationsbögen unterschieden nicht zwischen relevanten und wünschenswerten Daten. Eine Kategorie ‚Zuwendung‘ oder ‚Zeit zum Zuhören‘ fehlte. Ein Zufall? Anja erinnerte sich plötzlich, dass sie letzte Woche Frau Thoden versprochen hatte, ihr die begonnene Geschichte zu Ende vorzulesen. Wütend, dass sie ihr Wort nicht würde halten können, schleuderte sie den Kugelschreiber über den Tisch, riss sich dann wieder zusammen. Vorschrift blieb Vorschrift und die Mittagspause war bereits mit den leidigen Dokumentationen draufgegangen.

      Nachmittags waren drei Bewohner noch immer nicht geduscht, aber dafür wurde ein Neuzugang angekündigt. Auf Monas Stirn zeigten sich ernste Sorgenfalten und Anja merkte, wie sie ins Schwitzen geriet: Die Gefühle eines neuen Heimbewohners in den ersten Stunden waren für das Gelingen seiner Eingewöhnung oft ausschlaggebend. Anja presste für einen Moment die Innenflächen ihrer Hände an Stirn und Schläfen, als ob dies den anschwellenden Druck in ihrem Kopf mildern könnte.

       Herr Steger

      Marco Steger brachte kein Wort heraus, als seine künftige Schwiegertochter ihn fragte, ob er in Zukunft lieber auf seinem Zimmer oder im Restaurant des Seniorenheimes frühstücken wolle.

      Wie war er hierher gekommen?

      Als sein Sohn Jonas ihm vorgeschlagen hatte, die Möglichkeiten des betreuten Wohnens in Anspruch zu nehmen, hatte er zugestimmt. Nicht, dass er von den Vorzügen überzeugt war, sondern, weil er wahrgenommen hatte, wie innerlich zwiegespalten Jonas in letzter Zeit war: Zerrissen zwischen den beruflichen Anforderungen, die eine frisch eröffnete Anwaltskanzlei mit sich brachte, und dem Wunsch nach einer harmonischen Beziehung mit seiner zukünftigen Frau Jana. Und nicht zuletzt war da Jonas´eigener Anspruch, sich vernünftig um seinen 89-jährigen Vater zu kümmern.

      Marco wusste ebenso, dass Jana keine Frau war, die sich ihr Leben vom Terminplan ihres Mannes diktieren ließ, in der Hoffnung auf die eine oder anderer gemeinsame Unternehmung. Wo war es geblieben, dieses undefinierbare innere Strahlen aus Zufriedenheit und gelebter Nähe, das man nur bei Verliebten sieht, und dessen sie sich selbst nie bewusst sind. In Jonas` oder Janas` Augen hatte Marco es schon lange vergeblich gesucht. In der Hoffnung, dass die beiden wieder mehr Zeit füreinander hätten, und der Überzeugung, es seinem Sohn schuldig zu sein, hatte er sich zu diesem Schritt durchgerungen. Mit einem Hauch von Stolz und dem Gefühl, Herr der Entscheidung zu sein, hatte er die Zustimmungserklärung für die Unterbringung im Heim unterschrieben.

      Und dennoch, in diesem Moment war es ihm vollkommen egal, wo er frühstückte. Die Frage, ob er ein Zimmer mit Fenster nach Osten oder Westen bevorzugte, hatte ihn kalt gelassen. Und an einer Singgruppe oder am Gedächtnistraining teilzunehmen konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

      Die Einsicht, dass er nicht mehr eigenständig für sich sorgen konnte, war die zweitbitterste Erfahrung seines Lebens. Nicht aus freien Stücken war er zu dieser Erkenntnis gekommen, sondern durch den jüngsten Unfall, an dessen Hergang er sich kaum erinnerte, nur, dass er auf dem Küchenfußboden lag und nicht mehr in der Lage war, aufzustehen.