»Frühes 21. Jahrhundert. Gruppe: Disturbed. Song: Down with the Sickness«, schlug Jiminy vor.
»Trommeln?«
»Bestätigt.« Der Roboter fuhr die Lautstärke auf den höchsten Pegel.
»Lass es krachen!«, jubelte ich.
Ein donnerndes Stakkato erfüllte das Raumschiff vom Bug bis zum Heck. Das rhythmische Schlagen wurde vom Flüstern eines Mannes flankiert. Gitarrenriffs drängelten sich nach vorne. Abgehackte Schreie beendeten das Intro, gaben dem sägenden elektrischen Geräusch den Startschuss zu einem Wettrennen der Instrumente. Die Gitarre verbiss sich in das Schlagzeug, hastete dem Vorsprung der hämmernden Schlägel hinterher, immer auf Haaresbreite heran.
Jiminy hatte mein Faible für diese Musik – er hatte das Wort Vandalenkrawall benutzt – mit meinem genetischen Erbe begründet. Mir erklärt, warum dieser Lärm half, mich auf eine gefährliche Aufgabe zu konzentrieren. Die Parallele zum Bärentanz der Sioux war nicht seine Idee gewesen. Er hatte sie aus einer uralten Datenbank des Projekts HOMO NOVUS ausgegraben. Trommelklänge hatten auf die Jagd nach dem Grizzly vorbereitet und den Geist des Kriegers auf seine Aufgabe fokussiert. Außerdem war es eine Herausforderung an sich selbst und an den Bären, den Gegner. Ganz ähnlich zum Haka, dem rituellen Tanz der Maori, unseren einstigen Feinden auf dem Mars.
Ich liebte den Song sofort. Nicht wenige Wortfetzen aus diesem Englisch waren in unsere Sprache hinüber mäandert. Ich verstand Shit. »Shit!«, rief ich übermütig aus. »Shit!« Bei den Sittsamen unserer Gesellschaft galt die Benutzung des Wortes als unerwünscht. Ich liebte es schon deswegen.
Jiminy stellte zwei seiner optischen Einheiten über kreuz. Das war seine Variante eines human organischen Kuriosums, wie er es nannte, des Augenbrauenhochziehens.
Mein Blut pulsierte, auf meiner violetten Haut entstand ein irisierendes Farbenspiel. Die Zielerfassung senkte sich mittig zwischen Verfolger und Flüchtling. Gerade weit genug von beiden entfernt, so dass keine Seite Schaden nehmen konnte, ganz im Sinne von freundlicher Verständigung, die uns das Dasein, den Aufenthalt auf der Erde erleichtern half.
»Ein Versehen. Wir sagen, es war ein Versehen, falls ich doch jemanden treffe.«
»Mr. Brown«, sagte Jiminy in hochoffiziellem Tonfall. »Unser Leichter Frachter, die SCHILDKRÖTE III, wird exakt in Balance über dem Geschehen gehalten. Niemand wird einer Ausrede glauben, derselbe Mann, der auch dieses Raumschiff fliegt, habe einen der durch den Sand staksenden Anwesenden versehentlich verletzt. – Oder Schlimmeres.«
»Ein Fehler in der Elektronik?«, spekulierte ich leicht verschnupft über seine Nörgelei und glaubte bereits, er habe mich unter all dem Vandalenkrawall nicht gehört, da wurde ich eines Besseren belehrt.
»Du solltest dich nicht an Standardausreden gewöhnen, Mr. Brown. Das könnte eines Tages in deine Hose gehen.«
»In die Hose. Allgemein gesprochen. Soviel weiß ich über irdische Redewendungen. Ein Test, was? Also, nicht in meine ...«
»Schießt du jetzt?«
Ich betätigte den Abzug. Eine Millisekunde später jagte die von den Magnetfeldern aufgeheizte Eisen-Cobalt-Kugel, zehn Zentimeter im Durchmesser, in die Tiefe und schmolz beim Aufprall ein vor glühender Hitze dampfendes Loch in die Düne.
Verschiedene Aufträge hatten uns auf die Erde geführt. Über ein Jahr waren wir von Station zu Station, von Konvoi zu Konvoi, von Mond zu Mond – sogar nach Luna – geflogen und schließlich in die Erdatmosphäre eingedrungen. Endlich! Berauscht von all den Eindrücken aus Jiminys Erzählungen, den schönen Dingen, der Kunst, wie er es nannte, der Popkultur, der Musik waren wir sehr langsam zum ehemals Blauen Planeten herabgestiegen. Von der azurfarbenen, von Jiminy gepriesenen Pracht war nicht viel übrig geblieben. Die vorherrschende Palette setzte sich aus Grüntönen, Ocker und fadem Braun zusammen. Anders die Wasseradern und -reservoire der Erde; ihre geschrumpften Ozeane und vereinzelten Seen strahlten in Schlieren aus Kupfer und Silber durchsetzt mit Grünspan.
Und nun unter uns: Wüste. Das Dünenmeer wanderte gen Norden. Aus dem in kaum fünfzehn Kilometern unser Ziel, die Drachenzähne, aufragte, pechschwarz, spitz, vom steten Scheuern des Sandes angenagt, löchrig, schartig wie ewig gebrauchte Dolche, für das bloße Auge leicht erkennbar.
Jiminy schaltete das Angriffstrommeln ab. Disturbed verklang mitten im Kampfschrei. Schlagartig herrschte eine fast peinliche Stille in der Pilotenkanzel.
»Ein perfektes Manöver!« Es hatte fröhlicher klingen sollen. Die Sache war noch nicht gelaufen. Ich musste eine Entscheidung treffen. Wenn ich meinem Bauchgefühl folgte, würde ich damit Jiminy auf dem Grund seines elektronischen Kerns eine verärgerte Reaktion entlocken. Er hasste – ja, das konnte er, obwohl er es stets verneinte – unnötigen Ärger.
Die Verfolgungsjagd am Boden mündete in einen Stillstand. Tröpfelnd kamen die einzelnen Figuren zum Stehen. Zuletzt der Flüchtling. Er sackte, nachdem er mühselig versucht hatte aufzustehen, erneut auf alle Viere nieder. Sein Kopf wandte sich gen Himmel, in unsere Richtung, dennoch blieb das Gesicht im Schatten seiner Kapuze verborgen.
Unausgewogene Chancen waren mir zuwider. Hier einer, der genau das erkannt hatte und die Beine unter den Arm nahm. Da an die dreißig Gegner, die, je länger ich darüber nachdachte, den Flüchtigen gar nicht einholen wollten. Weil es offensichtlich bequemer war, ihn vor sich herlaufen zu lassen. Wohin sollte er auch verschwinden? Treibsand mochte das Spiel rasch beenden, falls die arme Kreatur es in eines der Dünentäler hinunter schaffte.
»Auf was sitzen die da?«, wollte ich von Jiminy wissen. Es interessierte mich nicht wirklich – solange es nicht mit Leguankatzen zu tun hatte. Aber ich wusste: Ein dozierender Jiminy ist ein kurzzeitig zufriedener Jiminy.
»Kamelartige«, erwiderte der Roboter so nahtlos, als habe er die Frage erwartet.
»Kamel-was?«
»Kamelartige. Eine tierische Lebensform, angepasst an besonders trockenes Land. Wüsten. Eine gute, funktionelle Wahl, es als Reittier in diesen Gegenden zu benutzen.«
»Oder es ist einfach eine alternativlose Tradition?«
Jiminy imitierte ein Nicken, das wegen seiner wippenden Fühler stets merkwürdig aussah und mich zum Lachen reizte. »Ist das komisch?«
»Gar nicht«, feixte ich und deutete zur Ablenkung auf den Monitor.
In letzter Sekunde zügelte ein Reiter sein Kamelartiges, bevor herabrutschender Sand ihn und sein Tier im kreisrunden Abgrund des Geschosskraters begrub.
»Glück gehabt«, kommentierte ich und meinte den Fremden – und uns.
»Du hast recht, Mr. Brown. Der Sturz hätte uns angelastet werden können. Ich schätze jedoch, dass es sich weniger um Glück als um die sorgsame Handhabung des Kamelartigen handelt, beruhend auf langjähriger Erfahrung dieses Einheimischen.« Am Ende eines seiner Gliedmaßen, aus der zweiten Reihe, weit oben an seiner Konstruktion, wo bei einem Marsianer der Brustkorb gewesen wäre, entfaltete sich die vierfingrige Kopie einer Hand, ein Daumen, drei Finger. Höchst sensibel dirigierte Jiminy damit die Kamera und suchte sich das vordere Dutzend der mit graugrünen Stoffen vermummten Menschen heraus.
Einer löste sich aus der Menge. Stattlich, leidlich gepflegter, die Stoffbahnen akkurater gelegt und gebunden. Breite Schultern, insgesamt riesig auf dem nicht eben kleinen Kamelartigen. Seine Haltung strotzte vor Selbstbewusstsein. Er wirkte aristokratischer als seine Gefährten. Auf dem Mars wurde diese Ausstrahlung verachtet. Hier verschaffte sie anscheinend Respekt. Sein Umfeld suchte Abstand. Der Anführer, unzweifelhaft männlich, schob seine Kopfbedeckung zurück. Im eng bandagierten Gesicht war ein Schlitz für die Augen frei gelassen worden. Die Konturen des Schädels waren kantig, fast eckig zu nennen. Die Kinnpartie ragte brachial zum Rest der ästhetischeren Proportionen hervor. Eine rostrote, ziemlich dickgliedrige Kette hing dem Mann um den Hals bis hinunter zur Brust. Dort baumelte ein Medaillon, darauf, wie eingraviert, ein unbekanntes Symbol. Nicht genau zu erkennen. Die Vergrößerung geriet hier an ihre Grenzen.
»Sie