Pyria. Elin Bedelis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elin Bedelis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940136
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Nichts ließ einen Schluss darüber zu, wer diese Menschen im Leben gewesen waren. In der Farblosigkeit verschwammen die Grenzen, die Kleider hätten ziehen können, und es schien keine Rolle zu spielen, in welcher eintönigen Tätigkeit man für immer festsaß. Obwohl es echte Berufe zu geben schien, war es kaum vorstellbar, dass irgendjemand hier eine Arbeit verrichten durfte, die ihm gefiel. Endlos schien die Stadt, wenn auch nicht groß genug, um all die Menschen zu fassen, die im Laufe der Geschichte in die Unterwelt verbannt worden sein mussten. Für einen kurzen Moment flammte die Hoffnung auf, dass es vielleicht doch eines Tages einen Ausweg geben konnte für die unglücklichen Seelen an diesem Ort. Dann fiel Leén ein, dass sie nicht sagen konnte, wie groß das Ausmaß dieser Stadt war, und dass Ebos sicher niemanden freiwillig aus seinen Fängen entließ.

      Als Machairi einen schnellen Schritt in einen der Schatten machte, konnten die beiden Mädchen gar nicht schnell genug reagieren. Von einer Sekunde auf die nächste war er verschwunden und einen Augenblick später bogen zwei Gestalten in die Straße ein, auf der sie sich gerade befanden. Wie automatisch wich Leén an den Rand der Gasse zurück und senkte den Kopf. Furcht durchschlug die Traurigkeit wie eine Faust eine dünne Membran und sie hielt den Atem an. Die Gestalten hatten keine feste Masse oder erkennbare Züge. Es war, als spiele man ein Daumenkino mit einer anderen schwarzen Gestalt auf jeder Seite ab. Eine nicht enden wollende Ansammlung düsterer Silhouetten umwoben von leichten Schlieren dunkler Masse.

      Kory und Leén wichen den Gestalten aus, so gut sie konnten, versuchten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und hielten es so wie alle anderen Menschen auch. Machairi war nirgends zu sehen und Leén fragte sich, ob er nicht gesehen werden wollte oder ob er von dem gleichen Gefühl, diesen Wesen aus dem Weg gehen zu müssen, ergriffen worden war. Waren dies nun Dämonen? Ihre flüssige und doch menschliche Gestalt war jedenfalls, wie Leén es sich vorgestellt hatte. Es musste sich um Kreaturen handeln, die ohne Gutes geschaffen worden waren. Furcht, dass sie sie angreifen mochten, weil sie erkannten, dass sie sich hergeschlichen hatten, ergriff Leén und plötzlich hätte sie alles darum gegeben, ebenso in den Schatten verschwinden zu können wie Machairi. Wo war er hin? Warum ließ er sie hier allein? War dies der Moment, in dem Korys Blut von Bedeutung war? Warum hatte sie Tränen in den Augen, obwohl sie an nichts denken konnte als die lähmende Angst, die ihr Herz zerfleischte?

      Doch die Schattenwesen beachteten sie nicht. Sie blieben vor einem nahen Haus stehen, das sich äußerlich nicht von den anderen unterschied. Die Tür dieses Hauses war verschlossen und die Fenster waren dunkel. Bekamen die Toten Schlaf? Oder durchbrach nicht einmal die Nachtruhe ihre unendliche Eintönigkeit? »Kedrick.« Vielschichtig und wie von hunderten Stimmen gleichzeitig gesprochen echote das Wort durch die Luft. Es ließ Leén das Blut in den Adern gefrieren. »Kedrick Wellentriel«, sprachen die Schattenkreaturen und es hallte durch die graue Straße. »Todestag.« Wieder und wieder wurden die drei Worte zurückgeworfen, echoten von überall her und schienen nicht verstummen zu wollen. Es war nicht auszumachen, ob die Wesen noch sprachen, oder ob es sich tatsächlich um ein Echo handelte.

      Der Mann, der die Tür öffnete, musste von Sinnen sein vor Angst. Leén wäre es gewesen. Sie wusste nicht sicher, was am Todestag geschehen mochte, aber es konnte nur ebenso grauenvoll sein, wie alles an diesem Ort vermuten ließ. In seinen unnatürlich blassen Augen lag der gleiche Ausdruck von besiegter Niedergeschlagenheit, wie ihn auch der Rest der Menschen hier trug, und es mischte sich Resignation hinzu. Auch wenn Leén Furcht in den Augen des Mannes zu sehen glaubte, wirkte er doch, als habe er sich auf abstruse Weise mit seinem Schicksal abgefunden. Was auch immer ihn nun erwartete, musste wahrlich grausig sein, und doch stellte er sich dem. Es mochte an scharfen hohen Wangenknochen liegen, doch sein Gesicht wirkte noch etwas fahler als die Haut anderer Cecilian. Eine Welle von Mitleid überrollte Leén, als sie beobachtete, wie Kedrick Wellentriel sich von den beiden Schattenkreaturen in die Mitte nehmen ließ und mit ihnen ging. Für einen kurzen Moment streifte ein besiegter Blick aus blassen Augen über tiefen Augenringen Leén und die Prinzessin, bevor er ihn auf den Boden richtete und von den Kreaturen um eine Ecke aus Leéns Blickfeld geführt wurde.

      Noch einen Moment sah Leén dem Mann hinterher. Erstarrt und schockiert von der Resignation, die sicher nicht nur er hier angenommen hatte. Es machte ihr die Wirkung der Unterwelt auf ganz neue abscheuliche Weise bewusst und sie konnte nicht aufhören zu denken, dass kaum etwas im Leben schlimm genug sein konnte, dass ein normaler Mensch etwas Derartiges verdient haben mochte.

      »Rish.« Kalte vielschichtige Melodik riss sie aus ihren Gedanken und sie fuhr zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. »Je weniger du darüber nachdenkst, desto besser.« Er war aus der Dunkelheit hinter ihr aufgetaucht. Eigentlich war dort eine Wand, aber er stand so selbstverständlich neben ihr, als sei dort eine Gasse oder wenigstens eine Tür, durch die er hätte kommen können. Sie bezweifelte, dass er durch das nahe Fenster geklettert war.

      »Was passiert am Todestag?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte noch immer vor Angst und dem Schauer, der einfach nicht aufhören wollte, sie zu erschüttern, weil sie nicht aufhören konnte, sich vorzustellen, was für Grauen den Mann erwarten mochte.

      »Konkrete Strafen für konkrete Vergehen im Leben.« Jetzt erst nahm er die Hand von ihrer Schulter, weil sie sich endlich aus ihrer Starre löste und die dunkle Jacke enger um sich zog.

      »Für immer?«, hauchte sie und konnte sich den Horror nicht vorstellen, den das bedeuten musste, wenn man jedes Jahr aufs Neue wusste, dass der Tag kommen würde und dass es kein Entrinnen gab. Sicher wie der Tod und nicht weniger angsteinflößend, aber wiederkehrend und vorhersehbar. Allein das war Strafe genug, wie sie fand. Wie diese Strafen am Todestag dann aussehen mochten, überschritt die Grenzen dessen, was sie sich vorstellen konnte und wollte.

      »Denk nicht darüber nach«, riet Machairi ihr noch ein zweites Mal und dann ging er weiter. Sie folgten nicht der Straße, die die Dämonen genommen hatten. Leén war damit beschäftigt, verzweifelt zu versuchen, seinem Rat zu folgen und nicht weiter über die Unterwelt, ihre Strafen und das Grauen nachzudenken, das jeden hier ereilte. Sie versuchte, die drückende Trauer und die aufblitzenden Erinnerungen fortzudrücken, doch sie konnte an nichts anderes denken. Jeder schöne Gedanke, mit dem sie sich abzulenken versuchte, zerfiel unter ihren Fingern, bevor sie ihn zu fassen bekommen und seine süße Wohltat in diesem Schrecken fühlen konnte.

      Schließlich zwang Leén sich, sich umzusehen. Wenn sie sich nicht mit dem ablenken konnte, was in ihrem Kopf war, musste sie versuchen, sich auf das zu konzentrieren, was sie sah, ohne anzufangen, darüber nachzudenken, wie grausam das war. Kory schlurfte mit gesenktem Kopf hinter ihr her, vermutlich ebenso in bösen Gedanken gefangen. Leén betrachtete die Menschen und die Häuser und versuchte zu raten, wo sich das Orakel befinden mochte. War es vielleicht möglich, dass es sich um einen Menschen gehandelt hatte? Eine Wahrsagerin vielleicht oder eine andere magische Person, die nie tatsächlich herabgebracht worden war, weil sie sterblich und nicht in der Gunst der Götter gewesen war? Wieder überrollten die Befürchtungen sie und Bilder von der Beerdigung ihrer Mutter blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Was, wenn sie auch hier war? Früher hätte sie gedacht, dass ihre Mutter eine so sanfte und wundervolle Person gewesen war, dass sie unmöglich in die Unterwelt geschickt worden sein konnte. Aber es gab so viele Dinge, die sie nicht über ihre Eltern gewusst hatte, und vielleicht waren die anderen Götter wütend auf die Frau, die der Grund war, dass Jico seine Göttlichkeit aufgegeben hatte. Was geschah mit den Menschen, die eigentlich in der Gunst ihres Vaters gestanden und deshalb nicht hierher gemusst hätten nach ihrem Tod? Vertraten die anderen Götter ihn oder hatte er seine Anhänger dazu verdammt, die Ewigkeit in diesem Hort der Grausamkeit zu verbringen? Der Gedanke schmerzte fast so sehr wie der, hier ihrer Mutter zu begegnen. Jede Harethifrau, die ihnen entgegenkam, jagte Leén einen Adrenalinschub von Angst durch den Magen und jedes Mal war sie erleichtert zu sehen, dass das eingefallene Gesicht nicht ihrer Mutter gehörte.

      Gerade als sie glaubte, dass sie nicht mehr lange würde weitergehen können, ohne den Verstand zu verlieren, erreichten sie eine schwarze Wand. Stunden musste es her sein, dass sie das riesige Tor durchschritten hatten. Wie hatte ihr nicht auffallen können, dass sie inzwischen fast direkt vor der Festung standen? Leén fühlte sich schrecklich klein und verletzbar zu Füßen dieses Kolosses. Drohend bohrten sich die Türme den Monden entgegen und der glänzende schwarze