Erleuchtet. Emmi Ruprecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emmi Ruprecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791269
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aufzulegen, hörte ich endlich ein Räuspern.

      Aha! Es lebte!

      „Ja, ich bin zuhause“, kam es vom anderen Ende der Leitung, „oder besser gesagt: Ich bin noch in der Praxis. Aber das wissen Sie ja – das steht ja auf der Visitenkarte.“

      Nun war ich an der Reihe verwirrt zu sein. Zuhause, Praxis – war das mein Problem, wo er sich gerade befand? Aber vielleicht hatte ich den kleinen Siegbert einfach überrumpelt und er musste halt irgendetwas sagen, um die Zeit zu überbrücken bis zu jenem Moment, wo er wusste, was er der begehrenswerten Frau mitteilen wollte, der er seine Karte zugesteckt hatte. Ich beschloss, ihm diese etwas lahme Eröffnung der Konversation seinerseits nachzusehen. Psychotherapeuten halt. Tse! Von denen war ja bekannt, dass sie selbst ihre besten Kunden waren!

      „Und natürlich erinnere ich mich an Sie. Ich fische nicht so oft Frauen aus dem Fluss bei meinen abendlichen Spaziergängen im Park.“

      Ich erstarrte. Was hatte er gerade gesagt?

      „Es scheint Ihnen wieder besser zu gehen. Wie schön! Ich habe heute im Klinikum angerufen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Man sagte mir aber nur, dass Sie das Haus bereits verlassen hätten. Das hat mich beruhigt.“

      „Ah ja“, war alles, was ich dazu sagen konnte.

      Obwohl ...

      Wie romantisch war das denn!!! Mein heimlicher Verehrer hatte mein Leben gerettet! Just in dem Moment, wo es für mich keinen Sinn mehr gehabt hatte! Wo ich ernsthaft entschlossen war, den aussichtslosen Tatsachen ins Auge zu sehen und alles fast schon vorbei gewesen war, da hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes mein Traumprinz zurück ins Leben gezogen. Unglaublich! Fast hätte ich geseufzt: „Oh Siegbert!“

      Doch Siegbert setzte seine Rede bereits fort.

      „Sie wirkten etwas verwirrt, als Sie kurzzeitig bei Bewusstsein waren. Ich hatte das Gefühl, sie bräuchten vielleicht meine Hilfe. Deshalb habe ich Ihnen meine Visitenkarte in die Tasche gesteckt. Und ich freue mich wirklich, dass Sie diesen Schritt gewagt und mich angerufen haben.“

      Mein Retter!!! Jetzt erinnerte ich mich schemenhaft an die dunkle Gestalt, deren Kopf ich im spärlichen Gegenlicht einer Straßenlaterne gesehen hatte, und der mir erschienen war wie der Heilige Geist persönlich. Natürlich! Diese Stimme! War sie mir nicht gleich so seltsam vertraut erschienen? Diese angenehme, tiefe Anmutung! Aber das war nicht der Heilige Geist gewesen, der mir den Weg in den Himmel bahnte. Das war er gewesen! Mein Held! Mein Siegbert, der mir den Weg zurück ins Leben wies! Und wie ritterlich seine Ausdrucksform: „Ich freue mich wirklich, dass Sie diesen Schritt gewagt haben“. So konnte nur ein Mann mit Erfahrung sprechen! Vielleicht war so ein reiferer Herr genau das Richtige für mich?

      „Ich schlage vor, wir kürzen das Ganze hier ab – ich bin auch schon auf dem Sprung meine Praxis abzuschließen.“

      Ja!!! Wow, wie schnell das Leben plötzlich in die Hufe kommen konnte, wenn es wollte! Das versprach noch ein ereignisreicher Abend zu werden. Wo würde er mich wohl treffen wollen? Vielleicht wieder im Park, am Fluss, dem Ort unserer ersten Begegnung?

      „Wenn Sie Zeit haben – vorhin hat ein Klient abgesagt, der morgen Nachmittag um 16:00 Uhr einen Termin bei mir hat. Die Sitzung können Sie haben!“

      Stille, dieses Mal allerdings meinerseits.

      Siegbert fuhr fort: „Ich nehme auch Kassenpatienten. Das macht bei mir keinen Unterschied. Bringen Sie einfach Ihre Karte mit. Die Überweisung von Ihrem Hausarzt können Sie auch später nachreichen.“

      Wodurch ich erkannte, dass mein Leben depressiv war

      Ich weiß nicht, wie ich erklären soll, dass ich nach diesem Telefonat nicht aus dem Küchenfenster meiner Zwei-Zimmer-Altbau-Wohnung in den Hinterhof gesprungen bin, sondern tatsächlich am nächsten Tag um 15:59 Uhr an der Tür eines zu einer Gemeinschaftspraxis umfunktionierten, zweistöckigen Wohnhauses am Stadtrand klingelte. Vielleicht lag es an meiner Wohnung, die in der dritten Etage und damit nicht besonders hoch gelegen war – der Ausgang der Angelegenheit war mir zu ungewiss. Schließlich hatte vor ein paar Tagen mein erster, mehr oder weniger unfreiwilliger Versuch, aus dem Leben zu scheiden, ja auch nicht in den Himmel, sondern nur ins Klinikum geführt, und mit dem Ergebnis war ich nicht zufrieden gewesen!

      Ich hatte die dem Telefonat folgende Stunde mit einer Abfolge emotionaler Abgründe verbracht, wie ich sie in dieser Intensität noch nicht gekannt hatte. Zunächst war da die Schockstarre gewesen, die ich minutenlang, immer noch mit dem Hörer in der Hand, auf meinem Sofa zugebracht hatte, obwohl Siegbert – oder in Zukunft wohl doch eher Herr Dr. Gärtner – längst aufgelegt hatte, nachdem er mir noch einen schönen Abend gewünscht hatte. Ich hatte mich gefühlt, als wäre ich von einer Dampfwalze überrollt worden, und war unfähig gewesen zu begreifen, dass sich das, was ich zuvor erlebt hatte, tatsächlich abgespielt hatte. Nachdem ich begann, das Erlebte wenigstens für möglich zu halten – schließlich hielt ich den Telefonhörer noch in meiner Hand – wurde meine Empörung darüber geweckt, wie das Leben, dieses unaussprechlich hintertücksche Luder, mir so einen grausamen Streich hatte spielen können. Wie sehr wollte es mich denn noch demütigen? War ich nicht bereits ausreichend am Boden zerstört? Meine Empörung wanderte vom Leben weiter zu Herrn Dr. Gärtner, der durchaus, wie ich fand, schon etwas früher seinen Teil dazu hätte beitragen können, das Missverständnis aufzulösen. Anschließend überfiel mich siedend heiß die Scham über meinen unter diesen Umständen unsagbar peinlichen Monolog, der auf der Annahme gründete, ich hätte es mit einem heimlichen Verehrer und nicht mit einem altruistischen Menschenversteher zu tun. Und schließlich quälte ich mich mit der Frage, wie unendlich jämmerlich und verzweifelt ich am vorherigen Freitag gewirkt haben musste, wenn der einzige Mann, der mich hatte kennenlernen wollen, ein Psycho-Pate war, der Mitleid mit einer total kaputten Existenz hatte!

      An dieser Stelle hatte ich mir einen weiteren Aperol Spritz gemixt, dem Universum zugeprostet und mich für das aufmunternde Selbstbildnis, das es mir gerade großzügig beschert hatte, bedankt. Mehr brauchte es meiner Meinung nach nicht, um mich tief in den schauderhaften Sümpfen der gnadenlosen Realität zu versenken und daran zu verzweifeln. Und hier schloss sich der Reigen und ich begann von vorne, das Leben, das unaussprechlich hintertücksche Luder, zu verfluchen.

      Nachdem ich diese Abfolge von Einsichten in mein zweifellos groteskes Schicksal einige Male mithilfe weiterer Prosecco-Mischungen durchexerziert hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich – wenn ich schon in den Augen anderer eine bemitleidenswert kaputte Existenz war – diesen Zustand auch mit Würde tragen konnte. Und das bedeutete, dass eine Klarstellung der Situation gegenüber Herrn Dr. Gärtner unbedingt nötig war! Zumindest sollte mir das dabei helfen können, dieses traumatische Telefonat zu verarbeiten. Da ich glücklicherweise noch krank geschrieben war und mich nicht gleich am nächsten Tag zurück in die vom Wahnsinn umjubelten Hallen meiner Arbeitsstelle begeben musste, war auch der vom Herrn Doktor vorgeschlagene Termin um 16 Uhr für mich realisierbar.

      Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, hatte ich endlich ein wenig entspannen und recht angetüdelt auf meinem Sofa einschlafen können.

      Und nun stand ich um 15:59 Uhr vor dem Eingang dieses quietschgelb gestrichenen Hauses und wartete. Während ich wartete, sah ich mich um: Oberhalb der Tür war ein JingundJang-Zeichen angebracht, das mich durchdringend musterte. Links von mir, an einem Balken des Vordachs, hing ein Windspiel, welches wegen Flaute gerade nicht spielte. Rechts vom Eingang plätscherte Wasser über ein paar Keramikkugeln und verschwand in einem kleinen Becken.

      „Aha“, dachte ich, als ich mit Befremden diese Anzeichen esoterisch geprägter Gestaltungskultur wahrnahm.

      Ich warf einen Blick auf das Schild links neben der Tür, welches das Haus als „Zentrum für ganzheitliche Heilkunst“ auswies. Darunter waren Namen von Therapeuten sowie eine beeindruckende Anzahl von unterschiedlichen Professionen vermerkt: Von Ayurveda über Basenfasten, Energiearbeit, Focusing, Heilsingen und Kerala Fußmassage bis hin zu Ohrakupunktur, Schröpfen, Tarot-Beratung und Zungendiagnostik – um nur eine bescheidene Auswahl zu nennen