Gedankenversunken saß ich also im Zug und sinnierte vor mich hin.
Nach einer halben Stunde ermahnte ich mich gedanklich dazu, auf die Pausetaste zu drücken. Das Hin und Her in meinem Kopf führte zu keinem Ergebnis. Es verdunkelte nur meine Laune, aber ich war doch jetzt die neue, positive Kati.
Den guten Vorsatz hielt ich geschlagene fünf Minuten durch, bis ich mein Handy hervorkramte. Der Neugier wegen mal auf das Display zu schauen, konnte nicht schaden, ermutigte ich mich.
Natürlich hatte ich keine einzige Nachricht, keinen Anruf, kein Lebenszeichen. Weder Mike noch Anna hatten sich also seit dem Vorfall auf dem Esstisch gemeldet. Ich musste zugeben, dass es mich traf. Es tat weh. Darauf zu hoffen, dass etwas eintrat, ohne dass es tatsächlich passierte, war doch wirklich hoffnungslos.
Und wenn ich kurz bei Facebook nachsah, ob sie etwas gepostet hatten?
Mein Kopf sagte mir laut und deutlich, dass ich es lassen sollte. Es würde nichts Gutes dabei herumkommen. Mein Bauch war jedoch anderer Meinung. Wider besseres Wissen schwebte mein Finger für lange Sekunden über dem Facebook-Button, bis er ihn schließlich drückte. Rasch tippte ich Mikes Namen in das Suchfeld ein und … nichts passierte. Hatte er mich etwa entfreundet?
Betrogen und entfreundet?
Dann fiel ich beinah vor Schreck in Ohnmacht. Ich dumme Nuss hatte doch wohl tatsächlich den Namen nicht ins Suchfeld sondern in meinen Status eingetippt und gepostet. Mein Puls raste und das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Mein Herz hämmerte wild und mein Gesicht lief dunkelrot an vor Scham. Wie peinlich. Hektisch suchte ich nach dem Löschen-Knopf, den ich ausgerechnet jetzt nicht auf Anhieb fand.
„Mist, Mist, Mist“, jammerte ich. Dann erspähte ich endlich das Gesuchte und setzte dem Spuk ein Ende. Hoffentlich hatte es niemand auf Facebook gelesen.
Erde, bitte tu dich auf!
Mein Abteilnachbar sah kurz von seiner Lektüre auf. Über den Zeitungsrand lugte die dunkle Hornbrille hervor, bevor der grauhaarige Kopf wieder aus meinem Blickfeld verschwand. Ich sank tiefer in meinen Sitz und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Schrieb mir jemand, warum ich seinen Namen gepostet hatte? Doch wieder passierte nichts.
Als ich den Schrecken langsam verdaut hatte, entspannte ich mich merklich. Deshalb startete ich einen zweiten Versuch auf Annas Profil. Dieses Mal achtete ich penibel darauf, dass ich keinen weiteren Fehler beging.
Anna hatte keine neuen Fotos hochgeladen, aber ich entdeckte eine Statusmeldung, die da lautete: Schaut Fifty Shades Darker – mit Mike König.
Wie bitte? Was? Anstatt sich bei mir zu entschuldigen, verbrachten die zusammen versexte Filmabende? Mit mir wollte Mike die Filme nie anschauen, hatte er sie doch immer als Quatsch und langweiligen Frauenkram abgetan. Dabei war er selbst nicht der Dominanteste, weder im normalen Leben noch unter der Bettdecke. Blümchensex war eine gute Bezeichnung für unsere Aktionen in der Waagerechten.
„Dieser Scheißkerl“, konnte ich mir nicht verkneifen und schloss die App.
Mein Kopf hatte Recht gehabt. Es war eine beschissene Idee gewesen, die beiden zu stalken. Warum machte man sowas, wenn man wusste, was dabei herumkam? War ich Masochistin? Wollte ich noch mehr leiden, als ich es bereits tat?
Heule jetzt bloß nicht, Kati. Das war deine alleinige Schuld. Du hättest einfach nicht nachsehen sollen. Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß... oder in dem Falle traurig.
Verzweifelt versuchte ich, die Emotionen weg zu atmen wie eine Schwangere den Wehenschmerz.
Der alte Mann gegenüber faltete seelenruhig seine Zeitung zusammen und legte sie säuberlich nebst Hut und Mantel. Amüsiert beobachtete er mich und bemerkte dabei nicht, dass ich mir dessen auf unangenehme Weise bewusst war.
Meine Augen brannten und ich schaltete das traurige Lied, das gerade anlief, rasch weiter.
Wie lange ging die Heimlichkeit zwischen Anna und Mike schon? Ich dachte angestrengt nach, ob Mike in letzter Zeit anders gewesen war. Hatte er sich mir gegenüber anders verhalten? Hatte ich Anzeichen übersehen? Wie oft hatten sich Anna und Mike schon hinter meinem Rücken getroffen? Inwieweit hatte ich zu dem Ganzen beigetragen? War ich nicht mehr gut genug, nicht hübsch genug, nicht fleißig genug, nicht liebevoll genug gewesen? Hatte ich mich verändert in den Jahren unserer Beziehung?
Meine Gedankengänge mussten in meinem Gesicht genau zu verfolgen gewesen sein, denn der ältere Herr ließ mich nicht aus den Augen. Irgendwann deutete er mit seiner von Altersflecken übersäten Hand auf meinen Koffer und fragte: „Sie verreisen? Wo soll‘s denn hingehen?“
Ich rang mir ein gezwungenes Lächeln ab. Merkte er denn nicht, dass ich jetzt keine Lust auf Smalltalk hatte? Scheinbar nicht, denn er wartete neugierig auf meine Antwort.
Meine Musik war leider so leise gestellt, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. Es schien ihn nicht zu stören, dass er einige Augenblicke warten musste, bis ich meinen MP3-Player ausgestellt hatte. Rentner hatten bekanntlich viel Zeit.
„Seychellen“, rang ich mir heiser ab.
Er blickte mich weiterhin aufmerksam durch seine Brille hinweg an. Seine Augen wirkten ganz verkümmert und unscheinbar hinter den dicken Gläsern. Er trug die Brille bestimmt schon jahrelang mit sich herum.
„Aber da müssten Sie sich doch freuen und voller Elan sein“, stellte er fest. „Mir scheint eher, dass das Gegenteil der Fall ist und Sie traurig sind“.
Der Mann hatte eine gute Auffassungsgabe und lag vollkommen richtig.
Mit ruhigen Bewegungen erhob er sich, legte sich den Mantel über den Arm, setzte seinen Hut auf und griff nach der Zeitung. „Wissen Sie, dort im Paradies haben sich schon so manche Probleme in Luft aufgelöst. Grüßen Sie die Flughunde von mir“, zwinkerte er mir zu.
Dann schob er die Tür unseres Abteils auf und ließ mich allein zurück.
Man sah mir meine Probleme also an der Nasenspitze an.
Aber was sollte seine Aussage bedeuten? War er selbst schon auf den Seychellen gewesen? War er auch dorthin geflohen, um Entscheidungen aufzuschieben? Oder war das nur der Rat eines weisen Mannes gewesen?
Ratlos ging ich also meinem neuen Hobby nach – ich grübelte angestrengt weiter und ehe ich mich versah, waren die Stunden im Zug auch schon vergangen.
An der Haltstelle für den Düsseldorfer Flughafen hievte ich meinen schweren Koffer allein aus dem Zug, da es hier jeder eilig hatte, sich um sein eigenes Gepäck zu kümmern. Mein Magen knurrte und erst jetzt nahm ich den Hunger wahr. Nachdenken verbrannte scheinbar viel Energie!
Ich folgte den Schildern, die den Weg zum Flughafen auswiesen und landete an einer Station für eine kleine Schwebebahn. Brav reihte ich mich in die Reihe der Wartenden ein und fand schließlich in der dritten Bahn einen Stehplatz.
Die Schwebebahn düste los und brachte ihre Passagiere rasch ans Ziel. Da ich zeitlich gut kalkuliert hatte, war ich anderthalb Stunden zu früh dran. Darüber war ich immens froh, denn in dem riesigen Flughafen brauchte ich eine halbe Stunde, um mich zurecht zu finden und den korrekten Check-In-Schalter ausfindig zu machen. Kein Wunder, dass die Flughafen-Polizisten bei den langen Wegen hier mit Segways unterwegs waren.
Der Check-In verlief völlig reibungslos. Kein Übergepäck, keine terroristischen Absichten – ergo kein Grund, die Reise nicht anzutreten.
Als ich meine Bordkarte in den Händen hielt und um einen Koffer leichter war, fiel mir der erste große Felsen von Herzen. Schritt eins hatte ich erfolgreich hinter mich gebracht. Nun konnte ich mich den wichtigen Dingen widmen.
Ohne fieses Gepäck begab ich mich zuallererst auf Nahrungssuche. Es gab unzählige Möglichkeiten, aber meine schwachen Nerven lotsten mich natürlich zum Bäcker.
„Ich bekomme einen Schokomuffin, ein