„Aber das ist doch auch ziemlich groß“, warf Krüger ein.
„Ja, das stimmt natürlich. Jedoch liegt es gut in der Hand. Es lässt sich leicht und sehr genau führen. Und wenn man gewohnt ist, damit zu arbeiten, versteht man normalerweise ebenfalls etwas davon, wie es zu schärfen ist.“
Krüger fasste sich ans Kinn. „Angenommen, Sie haben recht. Gibt es überhaupt noch eine Branche, die mit solchen Messern arbeitet?“
„Gewisse Friseure, die sich als moderne Barbiere sehen.“
„Ja, aber wer würde denn ausgerechnet auf diese Art auf sich aufmerksam machen?“
„Dass man nur aufgrund der Schleifmittelrückstände auf ein solches Messer schließt, dürfte ein durchschnittlich begabter Ausführender kaum erwartet haben, Herr Kommissar.“
Krüger beließ es bei einem schwachen Schulterzucken.
„Selbstverständlich kann es tatsächlich genau umgekehrt gewesen sein, um uns auf eine solche, in diesem Fall natürlich falsche Spur bringen zu wollen“, fuhr der Doktor fort. „Ein sehr raffinierter Täter könnte das Messer mit Absicht zuvor geschliffen und nicht gereinigt haben. Normalerweise zieht man diese Klingen vor Gebrauch bloß an einem Leder entlang. Es ab und zu richtig zu schleifen, ist allerdings trotzdem unerlässlich. Im Verlauf von etwa zehn Rasuren lässt die Schneide deutlich nach. Ich habe übrigens festgestellt, dass diese Messer bei Nichtgebrauch bald zu rosten beginnen …“
Krüger unterbrach ihn. „Entschuldigen Sie Herr Doktor. Das klingt zwar alles sehr interessant. Und ich möchte mich auch gerne genauer damit auseinandersetzen. Aber ich habe in zehn Minuten einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Könnten Sie mir Ihre Ausführungen bitte schriftlich darlegen?“
Holoch sah ihn erstaunt an. „Das habe ich doch längst zu Papier gebracht, Herr Kommissar. Darf ich Ihnen gleich ein Exemplar mitgeben?“
Krüger entspannte sich. „Ich bitte darum!“
Holoch kramte eine graue Dokumentmappe hervor. „Bitte sehr, Herr Kommissar!“
Krüger überlegte kurz. „Weiß schon jemand von der Sache?“
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sind der Erste.“
„Dann belassen Sie es im Moment bitte dabei. Ich möchte mich zuerst eingehender damit beschäftigen. Möglichst bevor das bekannt wird.“
„Aber selbstverständlich, Herr Kommissar, bleibt das unter uns, wenn Sie das wünschen. Und ich freue mich, dass Sie es interessant finden.“
Krüger suchte krampfhaft nach einer Antwort, die dem Doktor gefallen könnte. Ohne Erfolg. Seinen Satz: „Sie verständigen mich, falls das Labor zu einem anderen Schluss kommen sollte, Herr Doktor?“, fand er selbst eher unpassend.
Holoch lächelte jedoch bloß. „Das wird nicht passieren, Herr Kommissar. Ich bin mir ganz sicher.“
Krüger zog sich zurück. Den vorgeschobenen Termin verband er mit einem Besuch bei Michélle. Sie sollte sich mit Holochs Theorie ebenfalls eine Nacht lang befassen können. Dann konnte er sich morgen mit ihr darüber austauschen. Mit den Mitteln eines durchschnittlich begabten Kommissars, ging ihm durch den Kopf.
***
Gisbert durfte zwar nicht zu Sahra, aber immerhin erhielt er die Mitteilung, dass sie die Nacht überlebt hatte. Ihr Zustand sei unverändert.
Auf die Schnelle hatte ihm der Assistent eines Kollegen ausgeholfen, die zahnlose Oma halbwegs ansehnlich herzurichten. Über welche Begabung Sahra verfügte, wurde Gisbert jedoch erst jetzt so richtig klar.
Zwar hatte der Helfer die unmittelbare Not behoben. Aber die nächste Leiche würde sich turnusgemäß bald einstellen. Gisbert hatte sich darauf eingerichtet, dass er von einer bis zwei Feuerbestattungen in der Woche leben konnte. Versorgt wurde er ausschließlich von Altenheimen oder Kliniken, wo er die Verstorbenen ohne komplizierte Bergungen einfach abholen konnte. Die Bestatter der Gegend kannten sich und hatten sich entsprechend arrangiert. Manchmal, bei großem Andrang, brachte ihm ein Kollege einen "Kunden" vorbei, wenn die eigenen Kapazitäten nicht mehr ausreichten. Die Gebäude und das Grundstück waren längst bezahlt. Außer preiswertem Verbrauchsmaterial und ab und zu einem anderen Leichenwagen, benötigte er kaum Ausrüstung für sein Geschäft. Die Autos kaufte er von Kollegen mit großen Firmen, gebraucht und sehr günstig ein. Zubehör wie Kerzen oder Tannenreisig wechselten mit traumhaften Margen den Besitzer. Ein kleiner Vorrat an Särgen, deren Verkauf ihm einen ansehnlichen Teil seines Verdienstes einbrachte, rundete das Ganze ab. "Die Angestellte", also Sahra, bezahlte er in Anbetracht ihrer Arbeitszeit zwar vergleichsweise großzügig. Aber der Ertrag einer einzigen Bestattung reichte für etliche Monate der "Personalkosten" aus.
Sahra versorgte sich und Gisbert außerdem mit einer Unmenge an selbstangebautem Gemüse und Früchten. Womit sollte sie, die praktisch niemals ausging, sich sonst den ganzen Tag beschäftigen. Im Gemüsegarten blieb sie ungestört und konnte sich sogar ab und zu an die Sonne legen. Ganz nebenbei schnitt sie die Sträucher und den Rasen, räumte Laub und hielt das Unkraut in Schach. Nur bei größeren Arbeiten und beim Schneeschippen half Gisbert manchmal mit. Und alle paar Jahre beauftragte er einen Gärtner, um die Bäume zu stutzen oder neue Stauden anzupflanzen.
Gut, Sahra erledigte dies alles freiwillig. Gisbert würde nur einen Bruchteil ihrer Arbeit tatsächlich verlangen und entsprechend bezahlen müssen.
Trotzdem schwante ihm, dass er sie auch in dieser Beziehung schmerzlich vermissen würde.
Eine Aushilfe besorgen oder doch selbst Hand anlegen? Keine Frage für Gisbert. Jedoch, er wollte unbedingt ein weibliches Wesen im Haus haben. Aus verschiedenen Gründen. Der Helfer des Kollegen war effizient gewesen, das musste Gisbert zugeben. Aber von der harmonischen, sakralen Stimmung, die normalerweise bei Sahras Aufbahrungen herrschte, konnte man nur wenig spüren. Auch dies fiel ihm erst jetzt wirklich auf. Sahra legte die Toten nicht bloß zum öffentlichen Begaffen hin. Ein eklatanter Unterschied, der sich jedoch nicht an klaren Ursachen festmachen ließ.
Frauen in diesem Job waren eher dünn gesät. Nicht so sehr Bestatterinnen an sich, sondern "nur" Leichenpflegerinnen. Eine mit Ausbildung würde sich ohnehin kaum von ihm für bloß einige Stunden in der Woche anstellen lassen.
Aber vielleicht eine ehemalige Zahnarzthelferin, deren Kinder schon etwas größer waren. Er würde das Inserat entsprechend formulieren. Natürlich nur, bis Sahra wieder ihren Posten einnahm. Aber konnte sie überhaupt weiterarbeiten mit nur einer Hand? Gisbert schüttelte den Gedanken ab. Die Ärztin hatte einen kompetenten Eindruck gemacht. Noch handelte es sich nur um eine nicht gänzlich auszuschließende Möglichkeit.
Es ließ sich nicht einfach so abstellen. Würde ihn ein abrupt endender Armstumpf stören, wenn er mit ihr schlief, fiel ihm ein. Was, wenn sie ihn irgendwo damit berührte? Wahrscheinlich schwierig, sich nichts anmerken zu lassen. Dann sollte er es lieber gleich ganz aufgeben?
Jedoch dürfte sie das tief ins Mark treffen. Sahra hatte schon so viel Niedertracht erlebt. Er war der Einzige, der sie bislang ohne Vorbehalt angenommen hatte. Und jetzt zog er in Betracht, dass sie zum schweren Verlust ihrer rechten Hand auch noch verkraften sollte, dass er sie nicht mehr anfassen mochte? Welch fantastische Partnerschaft!
„Moment!“, rief er sich selbst zu Ordnung. „Wir sind überhaupt kein richtiges Paar. Sie ist nur eine …“
Bloß Matratze wollte er sie doch nicht nennen. „Einfach eine Gelegenheit“, murmelte er schließlich. Aber ob er wollte oder nicht. Er vermisste sie. Nicht nur als wohlfeile Angestellte. Jedenfalls fühlte er sich plötzlich nicht mehr sicher? Und was wären sie denn dann die ganze Zeit gewesen? Ein falsches Paar, womöglich?
Gisbert zog sich in den Hobbyraum zurück, um nebenbei weiter nachzudenken. Ein heller, ebenerdiger Raum, in dem früher einmal Sarglager und die entsprechende Werkstatt untergebracht gewesen waren. Während seine Eltern noch gewirtschaftet hatten. Und er fast die gesamte Freizeit, die