„Sei stolz auf den Namen der Halbinsel Hela, den dir einst deine Mutter gab. Ah, ich sehe das Eis im Februar vor mir, woran die Kegelrobben ihre Jungen säugen. Es war schon so, bevor dort das Toben der Fluten die Ausgleichsküste erschuf.“
Aus solcher Ferne krabbeln nach Helena gierende glitschige Tentakelquallen, die sie niederdrücken. Helena knickt ein. Nun eingefangen von ihrer frostigen Kindheit, klagt sie schroff:
„Die kalte Ostküste kennzeichnet den familiären Stall, dem ich angehöre. Der eisige, schneidende Ton im Brief meiner Verwandten erinnert daran. Zu dem wuchs Mutter in Urgroßvaters Heimweh und Sehnsucht auf. All dem entspringt mein Name, obschon sie riet, ich soll mehr daraus machen, eine Helena wäre nicht irgendein Weib. Ablegen will ich meinen Namen nicht, doch die frostige Tonlage in der Familie grub sich ins Gemüt. Ja, ja, die muss mich umso mehr fürs karge Leben stärken!“
Nicht in diese Richtung wollte der Lehrer schwenken. Heftig und laut atmet er. Helena will er seine Hand reichen. Schließlich kam er deshalb. Aber konnte er ahnen, in welch freudloser Tiefe sie heute fischen würde? Ihm steigt dennoch eine kleine forsche Idee für eine gelingende Ablenkung in den Geist. Vor nur wenigen Minuten tröpfelten Helenas Augen. Nur trockene erkennen Neues. Suchend sieht er zu den behauenen Deckenbalken, und startet in eine Wende.
„Ach, glückt mir nicht, dir dein sonniges Gemüt herüber auf die Goldwaage zu locken? Oder doch? Ich jedenfalls bestaune bei jedem Besuch die Höhe oben, die breiten Dielen, gut erwogen von Joos’ Eltern, da sie nah der Feuchtwiesen bauten. Es sollte für alle Ewigkeit halten.“
„Du springst von Hölzchen zu Stöckchen, um mich aufzuheitern.“
Nun wähnt Helena, den Verlauf seines Besuchs neu bestimmen zu sollen, derhalben prickeln die fünf Fingerkuppen an ihrer Rechten unmissverständlich. Sie deuten zu den Bodendielen. Dahin führt ihre unumstößliche Instanz das Ruder und weist sie an, mit den gefühlten Impulsen sorgsam umzugehen, und mit denen ihres guten Freundes. Sie faltet die Hände, stillt das Prickeln, und kann sich sortieren.
„Mein sonniges Gemüt liegt brach, dazu mag ich nichts mehr erklären. Aber zum Bau von Joos’ Eltern vermag ich zu sagen, er war wegen dem Käsekeller gut erwogen, denn die Großmutter ließ sich ihre Milchkühe nicht ausreden, als sie in diese Kate einzog.“ Helena bemerkt im hellen Blick des Lehrers sein Begehr. Aber vor hat sie nicht, in den Keller zu gehen. „Eigensinnig war Großmutter, behielt ihre Käserei bei, wie Joos meinte, der ihr unendlich nachtrauerte. Mir drängte er die Schinderei mit den Laiben auf, zusätzlich zum Backen, das ich zum Glück schon konnte. Aus der Seitenklappe meines im Rauchfang eingemauerten Brotofens steigt kein Dunst von frisch gebackenem Krustenbrot. Zu lange her, Lehrer Johann! Nur Seufzen kann ich!“
Sie schrappt mit den Nägeln abermals über den Tisch. Das Gekratze ist dem Lehrer geläufig von den Tischen in der Schule, er verbirgt es hinter einem nachsichtigen Blick.
„Deinen Wert vergiss trotzdem nicht. Fühle dein Besonderes! Du lebst auf, wenn du auf dem Acker stehst, halte ihn wach als dein Wertvollstes. Mach es wie dein Ahnherr, der Osthändler, er schipperte an unsere Küste, ihm gefiel unser Inselchen.“
Verdutzt von seiner Kehrtwende, auch herausgerissen aus ihrer Schwermut, streichelt Helena ihre hohen Wangenknochen.
„Ich erbte eine mit einer Bernsteinrosette verzierte Truhe, worin er Urgroßmutter Eli ihre Brautkette aus Bernstein übergab, und dann sein Geschäft gründete. Die Familienchronik besagt, er erlitt unter Heimweh nach dem abgekehrt von offener See liegenden Ort Hel. Ihn erlöste der nach Swinemünde rollende Aufschwung nicht davon. Noch herber zogen ihn die Bankrotte der Kaufleute hinab, jeder Stein der Villa raubte seinen Frohsinn, aber seine innere Instanz couragierte ihn, seine Familie über Wasser zu halten. Ich halte ihn dafür in Ehren, werde gleichlautend den Swinemündern antworten, denn ihm verdanken sie ihren Wohlstand.“
„Stimmt, Helena. Niemals hätten deine Verwandten auf der Halbinsel Hela den Luxus einer Stadt wie Swinemünde. Doch höre, so sensitiv austrocknen wie dein Ahnherr könntest auch du. Ich will dich darauf hinweisen, und ...“ verklingt seine Stimme.
Denn Funken sprühen Helenas Augen. Rosiger Glanz steigt in ihre Wangen, während sie kräftig noch einmal darüber reibt.
„Sag, was du willst, aber Warnungen schlage ich in den Wind! Vor Swinemünde graust es mich. Ich behalte mein Land, das kein bauwütiger Herr kaufen würde, so nah den feuchten Wiesen. Deren Duft der Erde trägt mich wohl oder übel durch die Widrigkeiten! Und ich wünsche mir auch gar nicht, dich zu verlassen!“
„So ist es mir Recht!“
Lehrer Johann erfasst - kurz in sein Anliegen spürend - es wurde zu Nichts aufgelöst. Helena trieft nun vor Lebendigkeit. Ausgenommen bei dem Einen.
„Deinen Verwandten sende einen respektvollen Brief! Du bist nicht wie sie, sonst hättest du keinen Ärger. Das bedenke einmal. Aber danach auch, dann vermeide harte Worte, denn die festigen auch in dir die Tristesse.“ Zufrieden nickt er ihr zu und zieht die Stiefelabsätze unter sich, jetzt im Sprung bereit, aufzustehen. „Helena, ich eile, käme ich noch später, knurrt Emilie sonst beim Essen. Dem ist vorzubeugen. Bringe mich zur Tür.“
„Ja, sollst kein Nachsehen haben. Ich beherzige auch deinen Rat für den Krempel der Lüüt. Und weil ich meinen einzigartigen Urahn verehre, gelingt es meinem Wesen sicherlich, allen, die mich aus der Dorfgemeinschaft abdrängen, die Stirn zu bieten.“
Helena begleitet ihn. Vor der Katentür winkt sie zum Abschied. Des Lehrers Magenknurren hört sie nicht, aber sieht ihn verschmitzt lächeln und den Hut in die Stirn rücken. Ihm erleichtert ihre so lebhafte Geste seinen Heimweg.
2
Unterdessen bückt sich Vedders schlanke Gestalt im nahen Wald beim Acker unter einer blattlosen Buche. Vor einem verschneiten Beerengestrüpp zerrt er einem Kaninchen eine Schlinge vom Hals. Er richtet sich auf, drückt die Fellkappe aus seiner Stirn. Wie eines seiner Schafe, von dem er felsenfest glaubt, es sieht arg schlecht in die Ferne, späht er aus seinen kurzsichtigen und so hellblauen Augen wie die Ostsee im Sommer schimmert, zu Helenas Kate. Soeben rollt des Lehrers Kutsche vom Hof, und Helena geht schon an der Hintertreppe nach draußen.
Vedders Herzschlag hüpft ob ihrer zauberhaft eiligen kurzen Schritte! Sie treffen ihn mitten ins Herz. Dies täte auch die quietschende Tür, würde sie endgültig zufallen, allerdings mit einem wehen Stich, tief bohrend in seiner Brust.
Er luschert gebannt. Helena fingert eine blonde Strähne unter ihr dunkles Kopftuch, und schaut zur Schneekruste am reetgedeckten Dach, mustert den Qualm am Schlot. Sodann stapelt sie Scheite auf einen Arm, steigt damit hoch. Vedders Atem stockt. Sofort weiß er, sie kommt noch einmal. - Da! Schon geht sie wie ein Schemen herab, vom grauen Pulloverärmel unter der Fellweste wohl kleine Hackspäne zupfend. Diesmal umrundet sie die Holzlege bis zum Anmachholz, stampft davor laut auf.
„Rattenviecher, fort mit euch!“, fleht Helena, und trampelt auf den gefrorenen Schnee. In Angst vor den Nagern, rafft sie schleunigst Anmachholz an sich, eilt in die Küche, wirft es in den Kasten am Kamin. Das Feuer an den Scheiten prasselt inzwischen. Sie geht zum Fenster zum Hof, schaut hinaus auf den sich übergangslos aus der vom Winter grauen See sich kaum hebenden Horizont.
In ihre Erinnerung steigt, angespitzt vom Gespräch mit Lehrer Johann, was Urgroßmutter Eli gescheit und erbaulich in der Familienchronik schrieb: Wo es ging, gebrauchte ich meinen Willen, sah hinter den Horizont. Dort tummelte sich allerhand, weniges nur konnte ich erreichen mit reichlich Geschick.
Kaum ein Moment der Besinnung verstreicht, schon rumort in Helena ein winziges Bruchstück