Er folgt ihr hinein in die Kök mit den soliden Schemeln aus Grünebergs Ahlbecker Zimmerei, an den Wänden verteilt sind eine Truhe und robuste Regale, am Milchtisch das Durcheinander der Kannen. Düster wirkt der Raum trotz des Glühen im Kaminfeuer und dem am Tisch hell schimmernden Kuvert.
In den Lehrer huscht eine Ahnung. Er setzt sich, wie er es vorgehabt hatte, an den Schemel am Tisch, und stemmt die Stiefel darunter, der Fahrtwind versteifte ihm die Beine und jetzt auch den Abstand zum Brief. Er zieht den Filzhut vom Kopf, dreht ihn in der Hand, streicht behutsam seinen korrekten Seitenscheitel nach.
„Nur kurz sehe ich heute herein zu dir.“
Er mustert ihren Seemannspullover. Lang wie ein Sack hängt der über den dunkelblauen Wollrock, der zu den Stiefeln reicht, die sie im Haus trägt. Blitzartig geht ihm auf, dieser Pullover wärmte Joos, ihm nahe will Helena sein! Doch an ihr ist mehr. Nachlässig gebunden hängt ihr Zopf unter dem Kopftuch, ihrem Äußeren widmet sie vor Gram keine Pflege. Ihre Augen wirken wie das Wasser in einem Gebirgssee. Lehrer Johann erinnert seine Wanderung, einst über die Lande. Er fand an einem solchen See für sein Herz den möglichen Anker in jeder Lage, und im Glauben an seine Berufung. Deshalb sitze er nun auch hier bei Helena. Mit väterlicher Güte mag er ihr helfen, und fragt sich doch unbehaglich, ob es gelingt? Sie macht nicht den Eindruck.
In Helenas Geist ringen noch zäh seine Worte der Begrüßung. Sie streckt langsam eine Hand, deren sonst zupackende Kraft wie erloschen nach dem Brief greift, der anfängt: Besinn dich, zieh her, nimm Anstellung bei einer Pension in Swinemünde. Und diese harsche Aufforderung brennt in ihr. Nur der Truhendeckel kann ihre Aufmerksamkeit davon abziehen.
Die in Jahren gedunkelte, lederbeschlagene Holztruhe öffnet Helena, legt den Brief hinein. Krachend fällt der Deckel herab, pufft den Staub seiner Rillen seitlich heraus. Helena zuckt mit weiten Augen zurück. Ihr wirkt der Deckel wie ein Spiegel der gefährlichen Gegenwart voller scharfer Kanten, und sprengt ihr den Mund auf, sie wendet sich um.
„Ach, Lehrer Johann! Der Brief der Verwandten ist wie jede andere Belästigung, seit Joos mich als Witwe sitzen ließ! Mich ändert das doch nicht! Ich will nicht inne Backsteinvilla, mit runzlig engen, hochnäsigen Mündern voll! Auf keinen Fall lasse ich mich als bemitleidenswertes Anhängsel betiteln, und fürs Schöntun begehrlichen Herren in Swinemünder Salons vorführen!“ Feucht blinzeln ihre Augen den Lehrer an, und fordern sein verständnisvolles Zuhören. „Verwandtschaft schwimmt auf eigene Weise. Mir sind Heringe und Aale in der Beek lieber. Alle Male treibt sie ihre Gleitfähigkeit an, die brauche ich jetzt.“
Helena spricht in der kernigen Schwermut, mit der sie sich selbst seit dem tödlichen Sturm von allem Winterleben ringsum trennt. Der emphatische Blick des Lehrers verlangt danach, ihre Wehmut zu erklären, aus ihrer Kehle sprudeln zu lassen. „Wachtmeister Karl zeigte mir den Polizeibericht, nur eine Bestätigung der Rückkehr ohne Joos. Seither meiden mich Fischerfrauen als hätte ich Krätze.“
„Wie konnte das nur passieren! Sonderbar“, wirft der Lehrer ein, und sucht ratlos nach dem Grund für die voreingenommenen Gemüter, und seinem sonst flüssigen Trost bei derlei Geschick.
„Die Wetterlage nur, die könnte den tödlich endenden Unfall erklären.“
Sein leiser Kommentar lässt Helena seufzen, von allem, was ihr vor Augen steht. Sie entlädt sich mit einem Wortschwall. „Ich will nichts von denen, die in wortkarger Einfalt mich übersehen als wäre ich nicht mehr! Lieber horche ich, ob Joos nicht doch übern Hof latscht, vor der Treppe grunzt, sich der Stiefel entledigt. Auf Socken steht er nie wieder im Türspalt, nie mehr umarme ich seinen nach Fisch stinkenden Pullover! Na, ich erledige, was jeder Tag fordert. Doch Sprotten und Dorsche vom Fang draußen, Flundern von der Küste, die Joos heimbrachte, die fehlen mir wie er. Aber niemals gebe ich mein Land auf! Diese Scholle bleibt mein, auch wenn ich allein mit allem dastehe.“
„Ach, Kind! Setz dich her! Allzu kurz halte ich heute meinen Kondolenzbesuch doch wirklich nicht.“
Bevor Helena gegenüber am gedrechselten Schemel hockt, legt er den Hut zur Tischkante, knöpft den Mantel auf, lockert den vom Alter gebeugten Rücken. Zeitgleich mit seiner Einkehr geht ihm auf, wie widerspenstig Helena den geltenden Leitrollen trotze.
Sie befolge eine Königsdisziplin, und rackert sich ab, würde bald in lichter Neugeburt aus der Asche steigen, schneller als Fischweiber zuwege brächten. Ja, da er sie trimmte, nicht nur der literarische Damenkreis seiner werten Gattin Emilie, die ihnen passable Traditionen vorlebt. Was wäre, sorgte sie nicht dafür? Und für mehr, weil in Ahlbeck auch einmal eine Kirche stehen soll. Mager wäre seine Sammelbüchse, hänge sie einzig an seinen Sohlen. Rasseln Damen, sind Herren spendabel bei den so viel versprechenden Festen, wo er sich allem Widrigen stelle, und danach die Büchse verberge im günstigen Moment daheim, wo Emilie die Magd Rosa nicht auf Schleifspuren im Staub aufmerksam machen könnte. Mit Staub lebt Emilie in Fehde. Sie würde sogar die zehn Trauerränder unter Helenas Fingernägeln kritisieren, und wohl auch die tröpfelnden Augen.
Kurz sieht er an ihre unaufhaltsam rinnenden Tränen und rasch weg. In Helena geht vieles vor, ihm reizvoller als seine Dramen zu Hause. Der Lehrer tastet mit auf- und niederfahrenden Fingern in seinen Spitzbart, und löst den Kiefer zum Sprechen. „Ja, weine tüchtig, das erlöst und erleichtert. Irgendwann betrachtest du den Kummer wie einen ausrangierten Hut, und begreifst das als von dir gemeistert. Oder muss ich Emilie um etwas Mütterlichkeit bitten, die dir Trost spenden könnte?“
„Kaum ihr Talent. Deswegen fehle ich vorerst im Kränzchen. Ach, Lehrer Johann, meine Not schabt mich ganz hohl. Wird mir dieser harte Tisch aufdecken, was mich wahrhaft erlöst? Niemals brach er unterm Essgeschirr zusammen, alle Viere ausgestreckt.“
Helena wischt mit einem Ärmel über ihre Wangen. Unter dem Nässeschleier der Wimpern schaut sie an des Tisches Maserung, kratzt mit allen Fingernägeln darüber. Sinnlich in ihren spürenden Fingern unterwegs, schaut Helena von unten herauf.
„Übriggebliebenes als gemeistert erkennen?“
„Bei deiner Nachlese. Du hast Joos’ Eigenarten oft beklagt! Dem entgegen riet ich dir, lege die nicht auf die Goldwaage.“
„Mit Unzen war der nicht aufzuwiegen! Unter seinem Betragen litt ich einst mehr als eine Goldwaage verkraftet.“
Der Lehrer neigt sich vor und dahin auch den Funken in seiner Absicht. Erregt springen ihm seine Augenbrauen hoch zu den faltigen Gebirgen an seiner Stirn, die jetzt weit mehr noch gefordert ist.
„Ja, eure zurückliegende Zeit füllte Waagschalen, so groß wie Badekübel. Verkläre die nicht wie eine Trauernde, die Leere mit Glorifizierung füllt. Immerhin warst du jahrelang geduldig mit Joos. Diese Kraft setze wiederum ein, gegen den Kummer.“
Nun scheint dem Lehrer, er müsste sich den Schaum vom Mund abwischen. Er faltet die Hände auf der Tischkante, sammelt sich und wagt ein feines Lächeln bei seinem nächsten Rat.
„Ein Zauber steckt im Detail, meint Meister Fontane. Doch meinen andere Weise, es stecke im Detail der Gottseibeiuns! Er trete ein, wenn wir einzig hadern mit unserem wenigen Guten!“
Helena reagiert weder auf sein zahmes Lächeln, noch all die Hintergründe seiner Erregung. An die Tür der Stube blickt sie, daran klebt breit eine Erinnerung.
„Joos schlich oft beunruhigt fort. Hinterher nörgelte er, ich käme ohne ihn zurecht. Ernüchternd war das, ohne Zauber. Ab und an bringt auch Emilie bei mir so etwas zustande.“
Sie wechselt schon einen wissenden Blick mit ihm. Still fragt der Lehrer sich, wie oft sie im Ehealltag an einem Unabwendbaren verzweifelte. Irritiert sieht er Helena an. Doch er kennt ihr Mienenspiel und sieht einige dunkle Gedanken aus den emotionalen Ereignissen im Damenkreis weit fort eilen.
„Sowieso erinnere ich kaum Mütterliches. Einzig mein Name gibt ab und an dazu Anlass. Weil viele Leute denken, sie hätten sich verhört und nennen mich Helene, nach der Äbtissin von Bülow. Wie können die annehmen, ich wäre so fromm wie sie?“