„Frau Barhaupt, es tut mir leid, aber das sollte im Privatbereich bleiben“, unterbrach er sie. „Uns interessiert vielmehr, wo Ihr Mann in letzter Zeit gewohnt hat.“
„Er hatte sich über der Praxis eine kleine Wohnung eingerichtet. Schon vor drei Jahren. Angeblich, damit er sich zwischendurch mal zurückziehen und auch mal ausruhen kann. Aber ich wusste natürlich Bescheid.“
Und wieder zu Sabine gewandt: „Mein Mann war testosterongesteuert. Er gehörte zu den Männern, die sich ständig etwas beweisen müssen. Solange ein Mann weiß, wo er zu Hause ist, ist das ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben uns trotzdem gut verstanden. Bis, ja bis er diesen Thomas getroffen hat.“
„Kennen Sie seinen Freund?“
„Tja leider!“ Verächtlich verzog sie ihren Mund. „Ich war beim Friseur, und als ich den Laden verließ, stolzierten die beiden eng umschlungen an mir vorbei. Dabei blickten sie sich wie verliebte Teenager ganz tief in die Augen.“
Die Art und Weise, wie die Witwe dies vorbrachte, machte Sabine stutzig. Frau Barhaupt besaß zwar schauspielerisches Talent. Aber ihre Psychologiekenntnisse waren noch ausbaufähig. Wenn die etwas fundierter wären, hätte sie sich nicht so widersprüchlich verhalten. Während sie noch vor ein paar Minuten beim bloßen Erwähnen dieses Herrn einen Gefühlsausbruch hinlegte, hatte die Erinnerung an dieses Zusammentreffen keine dementsprechende Reaktion bei ihr ausgelöst. Das war absolut nicht nachvollziehbar. Sicher hatte es zwischen den Partnern eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Und im Friseursalon waren sie doch bestimmt an der Scheibe gehangen und hatten sich förmlich die Nasen platt gedrückt. Und dass dieser Vorfall hernach zum Kundengesprächsrenner mutiert war, musste ihr doch auch klar sein … Das kratzte doch an der Ehre!
„Wären Sie so nett und würden mir den Namen und die Adresse dieses Herrn geben?“, fragte Engelhardt überfreundlich.
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen! Beides ist mir nicht bekannt. Da müssen Sie sich schon an die Praxis wenden.“
„Bevor wir gehen, dürfte ich Sie noch fragen, wann Sie ihren Mann zuletzt gesehen haben?“
„Sie dürfen! Das war vor zwei Tagen.“ Als der Polizist sie fragend ansah, ergänzte sie: „Mein Mann kam zu mir, weil er mit mir die Scheidung besprechen wollte. Ich habe ihn aber nicht hereingelassen und ihn an meinen Anwalt verwiesen. Und falls Sie jetzt auch noch wissen wollen, was ich gestern oder heute Nacht gemacht habe, muss ich Ihnen gestehen, dass ich leider kein Alibi habe. Ich war nämlich allein zu Hause.“
Eine heftige Reaktion
Sabine saß neben ihrem Kollegen, der das Dienstfahrzeug Richtung Quedlinburg steuerte. Die hiesigen Ortschaften waren noch ursprünglich. Nur wenige Neubauten unterbrachen die gewachsenen Straßenzeilen. Im Gegensatz zu anderen Gegenden überwog in dieser ostdeutschen Region kein einheitsgrauer Farbanstrich und die Häuser waren auch etwas besser in Schuss als in anderen Landkreisen. Hoffentlich machten sie hier nicht den gleichen Fehler wie im Westen. In ihrer Heimatstadt war man eine Zeit lang geradezu hirnlos vorgegangen und hatte massenhaft alte Häuser durch Neubauten ersetzt. Aber auch hier war man vor Bausünden nicht gefeit. Wenn sie da an diesen Betonklotz von Barhaupts dachte. Dieses Haus wirkte genauso unterkühlt wie seine Bewohnerin. Zum Glück hatten sie vor der Befragung vereinbart, dass Engelhardt die Gesprächsführung übernehmen würde. Ehm Bernd. Das „Du“ rutschte ihr noch nicht so leicht über die Lippen. Auf diese vertrauliche Anrede hatten sie in der Bäckerei mit einem Becher Kaffee angestoßen. Ja Silvia Barhaupt war mit allen Wassern gewaschen! Und dann diese obszöne Ausdrucksweise …
„Wird Zeit, dass in den Schulen ein erweiterter Ethikunterricht eingeführt wird! Allein schon der herablassende Tonfall von dieser Frau. Einfach scheußlich! Dabei wusste die nicht mal, wen man im Schwulenbereich als Tunte bezeichnet. Ich glaube nämlich kaum, dass dieser Zahnarzt plötzlich einen auf affektiert machte. Und dass er den weiblichen Part übernommen hat, kann ich mir bei einem testosterongesteuerten Mann auch nicht vorstellen“,
sprach Sabine ihren Kollegen auf Frau Barhaupts Ausfall an, kassierte damit aber eine ernst zu nehmende Fragen ein:
„Bist du sicher, dass du total frei von Vorurteilen bist? Mal ehrlich wärst du auch so tolerant, wenn Martin plötzlich auf Männer stehen und dies auch ausleben würde?“
„Hm …“, antwortete Sabine nur. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Auf alle Fälle hätte die Barhaupt ein Motiv“, wechselte sie schnell das Thema.„Schließlich erbt sie nun alles. Nach der Scheidung hätte sie wahrscheinlich alt ausgesehen. Dann wär’s aus mit dem Luxusleben gewesen. Und wer weiß, ob die nicht auch eine Gütertrennungsvereinbarung hatten. Aber vielleicht erfahren wir darüber ja etwas in der Praxis. Zumindest werden sie dort die Telefonnummer seines Freundes haben.“
Trotz der Abwesenheit des Zahnarztes saßen zwei Patienten im Wartezimmer, das zum Flur hin nur durch freigelegte Stützbalken abgegrenzt war. Im Wartezimmer hing ein Fernseher an der Wand. Wie nobel! Ob die Patienten ab und zu auch ein normales Programm zu sehen bekamen? Momentan flimmerte ein Werbefilm für elektrische Zahnbürsten über den Bildschirm. Der Ton war extrem leise, sodass man sich auf das Gesprochene konzentrieren musste. War sicher situationsbedingt. An der Rezeption mussten sie schließlich arbeiten. Im Augenblick waren zwei Frauen mit Telefonieren beschäftigt. Aha, die wussten vielleicht schon Bescheid, sagten gerade Nachmittagstermine ab. Und die jüngere hatte verquollene Augen. Als die ältere, die beiden Helferinnen trennte altersmäßig fast eine Generation, auflegte, traten die beiden Polizisten an sie heran.
„Guten Tag, wir müssen Ihnen leider etwas Unangenehmes mitteilen. Sollen wir dazu in ein Nebenzimmer gehen?“,
begann Sabine mit gedämpfter Stimme, nachdem sie ihren Dienstausweis gezückt hatte. Doch die korpulente Dame schüttelte nur den Kopf. Wesentlich erschütterter reagierte ihre Kollegin, die zwar telefoniert, aber mit halbem Ohr bei ihnen gewesen war. Augenblicklich knallte sie, zuvor nur kurz „Entschuldigung, ich muss auflegen, dringende Sache“ stammelnd, den Hörer auf die Halterung. Und obwohl Sabine noch nichts gesagt hatte, riss sie angsterstarrt die Augen auf. Erst jetzt bemerkte Sabine, dass sie schwanger war. Schätzungsweise fünfter Monat. Ruhig brachte die Polizistin ihr Anliegen vor:
„Heute Morgen wurde Dr. Barhaupt tot im Wald unterm Regenstein aufgefunden. Mehr ist uns noch nicht bekannt. Wir sind gerade dabei, die Angehörigen – und auch Sie – davon zu unterrichten. Wie wir in Erfahrung gebracht haben, hatte Herr Dr. Barhaupt eine neue oder sagen wir besser einen intimen Freund, von dem uns leider weder der Nachname noch die Adresse bekannt ist. Frau Barhaupt konnte uns leider nicht weiterhelfen. Aber möglicherweise wissen Sie mehr?“
Während die Ältere überrascht die Augenbrauen hochzog und dann mit den Schultern zuckte, sah sie die Schwangere entrüstet an und dementierte nach einer Schrecksekunde heftig:
„Nein, das ist eine Verleumdung! Herr Dr. Barhaupt war doch nicht schwul. Und einen Freund hatte er erst recht nicht!“
Engelhardt fühlte sich verpflichtet, die Mitteilung seiner Kollegin zu bestätigen: „Tja, vielleicht war Ihnen das nicht bekannt. Aber bei uns in Blankenburg war seine Liaison eine Zeit lang Gesprächsthema Nummer eins. Und auch seine Frau hat uns gesagt, dass sie sich von ihm scheiden lassen wollte, weil er sich einem Mann zugewandt hatte!“
Die bereits aufgerissenen Augen der Schwangeren weiteten sich noch mehr. Sie schlug ihre Hand vor den Mund, sprang auf und rannte zur Toilette. Kurz danach drangen von Schluchzen begleitete Würgegeräusche zu ihnen heraus.
„Das war aber eine heftige Reaktion!“, wunderte sich Sabine. „Stand sie denn ihrem Chef sehr nahe?“
Die Dicke verlegte sich auf eine leisere Sprechweise: „Wo denken Sie hin? Seit sie schwanger ist, reagiert sie über!