„Im Wald unterm Regenstein liegt eine Leiche. Der Achim Barhaupt, ein Zahnarzt. Eventuell ist er aufgrund Fremdeinwirkung verunfallt. Aber Genaueres weiß man nicht. Die Spurensicherung hat hier unten alles abgesichert und marschiert jetzt etwas weiter nach oben.“
„O. k. ich bin gleich da!“
Nachdem sie aufgelegt hatte, drückte Sabine aufs Display. Zum Kuckuck aber auch, Martin hatte wieder auf leise gestellt. Eine halbe Stunde später erreichte sie die als Museum zugängliche Festungsruine. Sabine war schon einmal mit Martin hier gewesen. Wegen der schlechten Witterungsverhältnisse hatte sie sich aber gleich in die Aussichtsgaststätte verzogen. Martin hatte den starken Mann markiert und sich weder vom Wind noch von dem später einsetzenden Nieselregen abhalten lassen, das Gelände zu inspizieren. Über ein Dutzend in den Fels gehauene Räume hatte er angeblich besichtigt.
Wo waren die bloß? Nee, Engelhardt rief sie jetzt noch nicht an. Erst mal suchte sie ihn auf gut Glück. Obwohl das war ne größere Geschichte, das Gelände war ziemlich weitläufig. Martin hatte sie damals fast eine Stunde in der Gaststätte sitzen lassen und dabei, wie er sagte, noch nicht mal alles gesehen. Weil er so lange ausgeblieben war, hatte sich die Wirtin genötigt gefühlt, mit ihr ein paar Worte zu wechseln. Letztendlich hatte sie ihr auch noch die Sage vom Regenstein erzählt.
Auf alle Fälle musste sie irgendwie über den Felsen. An manchen Stellen war es ziemlich rutschig. Das taufeuchte Gras ging ja noch, aber diese verwitterten Felsstufen! Streckenweise war nicht mal ein Geländer angebracht. Der Hinweis „Betreten auf eigene Gefahr“ war lachhaft. Notorische Selbstüberschätzer scherten sich doch nicht drum, ob sie einer Gefahr gewachsen waren oder nicht. Oh, das ging ja hier tief runter. Ja, sie hatte den richtigen Riecher gehabt. Schräg unten bog einer in Schutzkleidung ab. Weiter rechts konnte man wahrscheinlich mehr überblicken. Noch bevor sie ihren Kollegen Engelhardt entdeckt hatte, rief er zu ihr herauf:
„Ich komme nach oben!“
„Die versuchen gerade die Absturzstelle auszumachen“, keuchte er ihr wenig später entgegen. „Suchen nach Abrutsch- und Fallspuren“.
„Dann wurde er also nicht da unten gefunden?“
„Nein, lag weiter unten im Wald“, japste er nach Luft ringend.“
Bernd Engelhardt stemmte seine Hände gegen die Hüften und blies, damit sich sein Atem schneller normalisierte, mehrmals hintereinander kräftig die Luft aus seinen Lungen. Konditionell ist er nicht gut drauf, konstatierte Sabine. Dabei hatte er nicht ein Gramm zu viel auf den Rippen. Wäre bestimmt besser, wenn er abends mal joggen würde, anstatt ständig mit seinem Nachbarn abzuhängen. Womöglich kam der schon mit Hausschlappen auf seine Terrasse. Vielleicht steckte hinter Engelhardts Bequemlichkeit aber auch eine versteckte Depression? Dass ihn seine Frau ohne jegliche Vorwarnung nach fünfzehn Jahren Ehe verlassen hatte, war sicher ein harter Schlag für ihn. Wahrscheinlich fiel ihm auch das Alleinleben schwer. Engelhardt war ein redseliger Mensch, kannte hier fast jeden und wusste auch viel über deren Privatleben. Blankenburg war zwar eine Stadt, doch der Tratsch florierte wie in einem schwäbischen Dorf.
Engelhardt beendete ihre Gedankengänge: „Nach deren Berechnungen muss sich die Absturzstelle da unten befinden. Muss gestern am frühen Abend passiert sein. Der Barhaupt war übrigens ein Chickolo. Sah sehr gut aus. Eh Moment mal, ich zeige Ihnen ein Foto …“
Während er sprach, fingerte er sein Smartphone aus der Hosentasche. Nachdem er die Homepage des Zahnarztes aufgerufen hatte, hielt er es seiner Kollegin hin. Sabines abschätziger Blick verriet, was sie dann auch verbalisierte:
„Ziemlich glattgeleckt. War sicher extrem eitel.“
„Zu diesem Schluss kommen Sie durch ein Profilfoto?“
„Na gucken Sie sich doch seine Haare an! Da sind doch Lichtreflexe reingesträhnt. Viele Frauen hübschen so ihr fades Blond auf. Aber ein Mann muss schon extrem eitel sein, wenn er sich diese Prozedur antut. Nee, mein Fall wär der nicht.“
Ihr Gegenüber grinste: „Wär nun sowieso zu spät. Und wie ich ja schon gesagt hatte, waren viele Frauen anderer Meinung. Ich habe übrigens schon alle Angestellten befragt. Leider kann sich niemand an ihn erinnern. Vielleicht ist er ja auch erst abends abgestürzt. Der genaue Todeszeitpunkt steht noch nicht fest. Gestern war viel los. Anscheinend wurden mehrere Busladungen am Parkplatz abgesetzt. Eh, ich meine Besucher mit dem Bus hergebracht.“
Sabine nickte. „Hab schon verstanden. Vielleicht ist er ja ohne Fremdeinwirkung verunfallt. Hier ist es ja nicht ganz ungefährlich. Zumindest nicht, wenn man sich etwas abseits nach vorne wagt. Wer hat eigentlich den Toten entdeckt?“
„Leider genau das weiß ich nicht. Heute früh, kurz nach sieben, hat ein Mann auf den Anrufbeantworter gesprochen und im Stakkato berichtet, dass sich im Wald unterm Regenstein eine Leiche befindet. Klang nach vorgehaltenem Taschentuch. Er hat auch eine detaillierte Wegbeschreibung abgeliefert. Beim Landeskriminalamt hat er ebenfalls angerufen. Für dringende Fälle habe ich auf der Ansage die Nummer angegeben. Noch bevor man ihn dort nach seinen Personalien fragen konnte, hat er aufgelegt.“
„Ja das mit dem vorgehaltenen Taschentuch ist schon ein bisschen merkwürdig. Hat aber nicht unbedingt was zu bedeuten. Genauso wenig wie die Sache mit der unterdrückten Nummer. Möglicherweise hatte der Anrufer Angst, selbst unter Verdacht zu geraten. Oder er wollte nur nicht zur Protokollaufnahme aufs Amt zitiert werden. Hier im Osten scheint’s sowieso ne Behördenscheu zu geben.“
„Ach gehen sie bei euch“, das letzte Wort zog Engelhardt betont in die Länge, „etwa gern aufs Polizeiamt?“
Himmel, so langsam wurde das bei ihr zur Marotte. Jetzt war sie ihm schon wieder mit diesem „hüben und drüben“ gekommen. Vollkommen klar, dass ihm das inzwischen auf den Keks ging.
„Nee, natürlich nicht! Sorry, ich bin heut mit dem falschen Fuß aufgestanden.“
„Ärger?“
„Nee, vielmehr doch! Martin hat wieder mal das Telefon leise gestellt. Deshalb hatte ich nicht mitbekommen, dass Sie angerufen haben. Dabei weiß er genau, dass ich mein Handy immer in der Küche ablege und deshalb oben nicht höre, wenn es klingelt. Hab deshalb nur nen Schluck Kaffee getrunken, aber nicht mehr gefrühstückt. Martin hat nämlich unser altes Brot weggeschmissen und mit den Brötchen war er noch nicht zurück.“
„Tja Nadja hat es auch immer genervt, dass man in unserem Job die Arbeit nicht so leicht vom Feierabend trennen kann. Vielleicht wär’s besser, wenn wir Kriminaler untereinander heiraten würden“. Er lachte laut auf. „Vermutlich würden einem dann die Ehefrauen nicht so oft davonrennen. Wenn beide gleich engagiert sind und man sich deshalb nicht sieht, kann man nicht streiten. Aber das mit Ihrem leerem Magen lässt sich ändern. Auf der Strecke zu Barhaupts Witwe liegt eine Bäckerei. Am besten wir fahren gleich. Da unten werden sie noch eine Weile beschäftigt sein. Eigentlich sah der Barhaupt gar nicht mal so schlimm aus. Ist ja ziemlich weit abgestürzt. Nur die linke Gesichtshälfte war ein wenig zerschmettert. Und am Körper hatte er jede Menge Prellungen. Aber sonst … Wenn ich da in die Leiche denke, die sie aus dem Schlossteich gefischt haben. Da kamen doch …“
„Verschonen Sie mich mit Details!“, unterbrach ihn Sabine.
„Geht klar! Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, dass ich jetzt mit einer Frau zusammenarbeite. Ich hatte über zehn Jahre nur Dieter als Kollegen. Da übernimmt man natürlich so einiges. Der Dieter wollte immer alles haargenau wissen, jedes klitzekleine Detail musste ich ihm schildern.“
„Ich weiß schon, dass sich mein Vorgänger gerne an so was aufgegeilt hat. Aber im Gegensatz zu ihm bin ich noch nicht im Pensionsalter und bevorzuge deshalb andere Stimulanzen. Können wir fahren? Sonst fängt mein Magen noch zu knurren an.“
Während