Matthew wollte schon aufspringen, blickte aber nochmal auf die Anzeige (geliebte Schwester und Mutter) und dann sah er ihn, den Hinweis, den sie brauchten inmitten dieser furchtbaren Nachricht. Dupoit hatte erwähnt, dass seine Tochter Michelle hieß. Michelle Leconte mit Sarah. In Windeseile öffnete er ein neues Fenster, tippte eine kurze Suche ein und schrieb ein paar Wörter auf einen hastig aus seiner Tasche gekramten Zettel. Dann klemmte er sich seine Tasche unter den Arm, warf der jungen Frau auf dem Weg zur Tür einen Geldschein auf den Tresen und eilte auf die Straße hinaus.
***
»Wer einen Weg hinein findet, kommt auch wieder hinaus«, sagt die Frau und lacht. Sie zieht kräftig an dem Schlauch ihrer Wasserpfeife, aber das Gurgeln des Wassers geht in dem Stimmenorchester, das aus dem großen Zelt dringt, unter. Sie öffnet ihre dunklen Augen und lässt milde lächelnd Nebelschwaden aus ihrem Mund in die warme Nachtluft aufsteigen. Über dem sandigen Marktplatz hängt träge der Vollmond am Himmel. Dupoit rutscht tiefer in die Kissen und fühlt, wie seine Augen schwer werden. Sein Bauch ist prall gefüllt mit den fremdartigsten und wohlschmeckendsten Gerichten, die er in seinem Leben gekostet hat. Neben ihm steht eine halb geleerte Karaffe Wasser und in seiner Hand liegt kühl eine Flasche Wein. Er hat Essen in all der Zeit, die er auf seinem Hügel festsaß, vermisst, aber erst jetzt, nach der ersten Mahlzeit, wird ihm klar, wie sehr es ihm gefehlt hat.
Der Anführer der Karawane hat ihn zu Melinda gebracht; hier soll er Antworten finden. Die Fremde scheint noch jung zu sein, höchstens in den frühen Zwanzigern. Unter einem farbenreichen Kopftuch fallen dunkle Locken bis auf ihre Schultern, die nur ansatzweise von ihrem ebenso bunten Kleid bedeckt werden. Sie ließ ihn erst ausgiebig von den aufgetischten Speisen kosten – »Ich sehe den Hunger in deinen Augen, und Hunger ist ein schlechter Gesprächspartner« – bevor die Unterhaltung begann. Melinda hörte schweigend zu und bereitete ihre Pfeife vor, während er erzählte. Jetzt, da er fertig ist, fühlt er sich müde und schwer. Der Lärm tritt zunehmend in den Hintergrund und Dupoit glaubt, langsam durch die Nacht zu treiben. Melindas leise Stimme jedoch dringt klar verständlich durch den Schleier. Sie spricht Französisch, aber es scheint ihm mit einem leichten Akzent, den er nicht klar ausmachen kann.
»Wer einen Weg hinein findet ... Aber wo lag dein Weg?« Melinda schüttelt kaum merklich den Kopf. »Du bist keiner der indigènes, aber du hast auch keine Verbindung zur Gilde, so viel ist klar.« Sie lächelt wieder. »Ein verirrter Wanderer; und dann auch noch im wahrhaft verlassensten Teil dieser Welt gestrandet.«
Als Dupoit spricht, kommt ihm seine eigene Stimme seltsam unwirklich vor. »Wenn Custodio mich nicht mit seiner Karawane gefunden hätte, wäre ich auf diesem Hügel gestorben.«
»Ja, möglich. Aber so wie die Zeit hier rinnt, hätte das noch eine Weile gedauert. Dir wäre es sicherlich wie zweihundert Jahre vorgekommen.« Für einen Augenblick werden ihre Augen ernst. »Manche Dinge hier können einem den Verstand rauben, und es müssen nicht immer bösartige sein. Der zähe Fluss der Zeit reicht vollkommen aus.« Das Lächeln kehrt langsam zurück auf ihre Lippen. »Das ist wahrscheinlich am schwersten, wenn man hier ankommt. Der größte Unterschied zu unserer Welt.«
Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche. Der süße Wein fühlt sich angenehm warm in seiner Kehle an. »Bist du auch von der...« Er will Erde sagen und kommt sich noch im selben Moment vollkommen idiotisch vor.
Melinda lacht. »Limoges. Allerdings wurde ich in Budapest geboren. Meine Eltern und ich wanderten erst aus, als ich zwölf war.« Sie zieht an der Pfeife. »Das war 1907. Ich habe mich ganz gut gehalten, findest du nicht?«, fügt sie zwinkernd hinzu.
Dupoit nickt schläfrig. Speisen und Wein fordern ihren Tribut am Ende dieses Tages und er sinkt noch etwas tiefer in die Kissen. Seine Augen schließen sich und auf den letzten Schritten Richtung Schlaf hört er Melindas Stimme aus der Ferne.
»Es gibt immer einen Weg hinaus.«
Sein Kopf senkt sich auf seine Brust. Der Platz, das Zelt, der Lärm in der Nacht schleichen sich aus seinem Bewusstsein.
»Wir müssen dir nur zuerst eine Karte finden.«
Kapitel 10
Matthew wartete abseits auf dem Weg. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, um sich wenigstens etwas vor dem schwachen aber stetigen kühlen Wind zu schützen, der unter dem wolkenverhangenen Himmel in den Bäumen flüsterte. Dupoit stand seit einer Stunde am Grab seiner Frau auf dem Cimetière de Montmartre. Ohne ein Wort hatte er den Weg dahin gefunden. Die Kälte schien er nicht einmal wahrzunehmen und Matthew wollte ihn nicht aus seiner Trauer reißen.
In seiner Hand hielt er den Zettel, auf dem er den Namen von Dupoits – wie er annahm – Enkeltochter notiert hatte. Sie war die einzige ihres Namens im Telefonbuch gewesen und er hatte eilig ihre Nummer und Adresse neben den Namen gekritzelt, bevor er seinem neuen Begleiter gefolgt war. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ihr Großvater, der ohne eine Nachricht aus dem Leben ihrer Familie – aus der Welt – verschwunden war, plötzlich vor ihr stand? Sicherlich kannte sie sein Gesicht von alten Fotografien, also würde sie ihn zumindest nicht voreilig als Verrückten abtun. Aber dann?
Der Regen hatte die Luft merklich abgekühlt und der Wind tat sein Übriges, damit sich Matthews Finger wie Eiszapfen anfühlten. Sein Kopf schmerzte. Er wünschte sich sehnlichst einen warmen Kaffee und etwas zu essen. Der Gedanke erschien ihm ziemlich pietätlos angesichts der Vorstellung, vor welcher Leere Dupoit jetzt stand. Kurz dachte er daran, die Nummer auf dem Zettel anzurufen, nur um zu sehen, ob die Frau überhaupt zu Hause war. Er könnte dann immer noch behaupten, er habe sich nur verwählt.
In diese Gedanken brach unvermittelt Dupoits Stimme.
»Ich denke, wir können jetzt gehen. Ich habe ihr gesagt, was notwendig war.«
Sie hatten auf dem Weg zum Friedhof geschwiegen und Matthew erzählte ihm jetzt, was er herausgefunden hatte. Dupoit hörte ihm ruhig zu und die geröteten Augen musterten den Zettel in Matthews Hand aufmerksam. Dann nickte er. Sie hatten ein neues Ziel.
Sie wählten den Weg in Richtung des westlichen Ausgangs.
»Am besten wir nehmen ein Taxi«, sagte Matthew nach ein paar Minuten, um die Stille zu brechen. »Die Straße, in der sie wohnt, liegt ein ganzes Stück südlich von hier, auf der anderen Seite der Seine.«
Dupoit war ernsthaft erstaunt und konnte sich auch ein Lächeln nicht verkneifen. »Offensichtlich kennen Sie als Engländer die Pariser Straßen besser als ich. Und Sie haben sicher nicht mal als Taxifahrer gearbeitet?«
Matthew lachte. Seiner Meinung nach hatte er diesem Mann aus einer anderen Zeit mit den Wundern des Internets schon genug Zukunft für einen Tag zugemutet. Von Mobiltelefonen würde er ihm ein anderes Mal erzählen.
***
Während er den Hügel hinaufgeht, umklammert er das dünne Buch mit seiner rechten Hand. Obwohl der Mond nicht am Himmel steht, leuchtet der weiße Schotterweg hell zwischen den Gräsern, die sich im Wind wiegen. Der Hügel ist nicht sehr steil aber langgezogen, und er spürt den Schmerz in seinen Beinen. Beinahe zwei Wochen ist er nun schon zu Fuß unterwegs. Seine Begleiter hatten ihn mit ihrem Pferdewagen bis zu einer kleinen Zeltsiedlung an einem Fluss gebracht, aber es gab keine Brücke über das tiefe Wasser und er musste in einem morschen Boot übersetzen und den Rest des Weges alleine antreten. Vor drei Tagen hat er seinen letzten Proviant verbraucht und in seinem Magen tut sich wieder diese nagende Leere auf, die ihn in all den Jahren auf der Anhöhe begleitet hat. Aber er weiß, dass das Ziel jetzt ganz nahe ist.
Die Sterne funkeln kalt in der klaren Nachtluft, als er endlich den höchsten Punkt erreicht. Vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, atmet er einen Augenblick lang tief durch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann lässt