Ein letztes Mal wandte sie sich um und erfasste das ganze Zimmer in seiner klösterlichen und geheimnisvollen Kargheit mit einem nachdenklichen Blick. Der Arbeitsplatz eines Weltenschreibers? Was zum Teufel war ein Weltenschreiber? Und konnte wirklich irgendjemand in einem solchen Raum, der weit mehr Ähnlichkeit mit einer Gefängniszelle als mit einem Büro hatte, arbeiten?
Sarah verließ das Zimmer und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Sie verschwand vollständig im Muster der Tapete, während der Raum dahinter in der Vergangenheit verschwand.
Sarah blieb in Gedanken versunken stehen. Um sie herum war alles still. Es musste bereits später Abend sein, die Studenten waren sicherlich schon alle gegangen und die meisten Lehrkräfte ebenfalls. Sie hoffte nur, dass die Eingangstür so eingestellt war, dass man das Gebäude von innen jederzeit verlassen konnte, auch wenn man keinen Schlüssel besaß.
Kurz erwog sie, nach Hause zu gehen, aber die Aussicht auf eine leere unordentliche Wohnung war nicht besonders verlockend. Außerdem wusste sie, dass sie der Schlaf noch eine ganze Weile meiden würde.
Also – was blieb ihr dann? Wie von selbst setzte sie sich in Bewegung, ihre Schritte richteten sich auf das gewohnte Ziel: die Bibliothek. Als ihr bewusst wurde, wohin sie ging, folgte auch die nächste Erkenntnis.
Sie hatte im falschen Buch nach Hinweisen gesucht! Malorys Morte Darthur war zwar der richtige Titel, aber die Ausgabe ihres Großvaters konnte ihr nicht weiterhelfen. Auch Coleridges Gedicht hatte erst in der Bibliotheksausgabe seinen versteckten Inhalt preisgegeben. Was, wenn dies auch bei Malory der Fall war?
Sarah beschleunigte ihre Schritte und stand schon bald vor der Tür zur Bibliothek.
Verschlossen, natürlich! Die Bibliothekare waren längst in den verdienten Feierabend verschwunden. Aber Sarah hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Während ihres Studiums hatte sie eine Zeitlang in der Bibliothek ausgeholfen und sich auf diese Weise ein bisschen Geld hinzuverdient. Den Schlüssel hätte sie danach eigentlich wieder abgeben sollen, aber irgendwie fand sie den Gedanken unerträglich, sich von einem Bibliotheksschlüssel trennen zu müssen. Deshalb hatte sie ihn vor der Rückgabe heimlich nachmachen lassen und die Kopie behalten. Vorgeblich als Andenken und weil sie das insgeheime Wissen genoss, jederzeit Zugang zu den Büchern zu haben. Tatsächlich gebraucht hatte sie den Schlüssel bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Sarah holte ihren Schlüsselbund aus der kleinen braunen Umhängetasche und suchte nach dem Objekt, das nun zu seinem ersten Einsatz kommen würde. Sie fand den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Als sie ihn drehte und die Tür sich öffnen ließ, verspürte sie Erleichterung. Dieses Hindernis wäre überwunden.
Die Bibliothek war dunkel und Sarah brauchte einen Moment, um diesen ungewohnten Anblick mit der Bücherei in Einklang zu bringen, die sie bis ins Detail kannte. Das nächtliche Licht, das durch die großen Fenster drang, hüllte die in Regalen aufgereihten Bücher in einen gespenstisch schimmernden Mantel.
Für Sarah hatten Bücher von jeher etwas Lebendiges ausgestrahlt, versprachen sie doch ein Geheimnis, das sich in ihnen befand und gelesen werden wollte. In dem düsteren Licht, das nun von draußen hereinkam und ein Gemisch aus Mondschein und Straßenlaternen war, wirkten die Bücher jedoch mit einem Mal tot. Leblos. Verstaubt. Sarah hatte fast den Eindruck, in einer Gruft zu stehen und fuhr erschrocken zusammen, als der grelle Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos über die aufgereihten und gefangen gesetzten Bücher glitt.
Hektisch tastete Sarah nach dem Lichtschalter neben der Tür, um ihn zu betätigen und das Zimmer in helles Kunstlicht zu tauchen, doch im letzten Moment hielt sie irgendetwas davon ab. Vielleicht war es die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns. Sarah hatte das Gefühl, als sollte sie sich auch dementsprechend benehmen und es tunlichst vermeiden, bei ihrem nächtlichen Ausflug ertappt zu werden.
Entschlossen drückte sie die Tür hinter sich zu und bahnte sich dann ihren Weg durch die spärlich erleuchtete Bibliothek. Sie wusste, wo sie fündig werden würde. Sie kannte den Raum, das Regal und das Fach.
Sarah nahm Malorys Morte Darthur und zog sich in eine Ecke des Raumes zurück, in der ein Schreibtisch stand. Sie knipste das kleine Leselicht an und setzte sich auf den unbequemen modernen Stuhl, während ihr ein anderes Bild noch allzu deutlich vor Augen stand – der grob gezimmerte Stuhl, der hölzerne Schreibtisch, der karge Raum.
Sarah holte ihr Notizbuch hervor und machte sich daran, das gesamte Werk durchzuarbeiten. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie die richtige Ausgabe vor sich hatte. Und sie wusste nun auch bereits, wonach sie suchte: Die Hinweise waren auf genau dieselbe Art und Weise hervorgehoben wie in Coleridges Rime.
Als sie das Buch von vorne bis hinten durchgeblättert hatte, Seite für Seite, immer auf der Suche nach betonten Worten und Sätzen, ließ sich bereits leichtes Dämmerlicht durch die großen Fenster der Bibliothek fallen und verkündete den kommenden Tag. Sarah lehnte sich zurück und blickte lange Zeit auf die neun Abschnitte, die sie in Malorys Werk gefunden hatte.
Sie hatte die Teile zuerst in chronologischer Reihenfolge abgeschrieben, aber sie dann umgestellt, weil sie den Text so für verständlicher hielt.
For thy love I have left my country, ...
... the letters ... said in this wise: Never shall man take me hence, but only he by whose side I ought to ... be
Es war wie bei Coleridge. Ein Hilferuf? Eine Warnung? Irgendwer hatte mit einer zweiten Person sein Land verlassen und war nach Frankreich gekommen. Anscheinend gehörten die beiden zusammen. Keiner sonst sollte sich zwischen sie drängen. Sarah starrte den zweiten Abschnitt an. Er kam ihr seltsam vor. Fast schien es, als würde hier ein Gegenstand sprechen und kein Mensch. Aber wahrscheinlich lag das daran, dass sich derjenige, der diese Hinweise gelegt hatte, mit dem vorhandenen Text hatte begnügen müssen. Und dieser handelte nun einmal von einem Schwert.
... the land and water had flamed all of fire. ... the hot blood made all the sea red of his blood. ... thou art like to fight with some giant thyself, being horrible and abominable ... dreadful dream
Es war die Rede von einem bösen Traum, in dem vergossenes Blut eine Rolle spielte. Ein See, der sich von vergossenem Blut rot färbte... Sarah fühlte sich an das Bild erinnert, das sie erst zu dem verborgenen Raum geführt hatte. Ein Schiff, das über rosarote Wellen in einen rosaroten Sonnenuntergang fuhr. Und dann war da noch eine Warnung – an die Person, mit der er aus einem anderen Land gekommen war? Es hieß, dass ein Kampf gegen einen schrecklichen Riesen bevorstehen würde.
... he was almost out of his mind
... and then he unlaced his armour, and ... would go into the wilderness, and brast down the trees and boughs; ... And then was he naked ... And when he did any shrewd deed they would beat him with rods, and so they clipped him with shears and made him like a fool.
Der vierte Abschnitt ging Sarah besonders nahe. Jemandem wurde Gewalt angetan. So sehr, dass er darüber verrückt wurde.
... for now have ye lost him, for I saw and heard by his countenance that he is mad for ever. ... for now I wot well we have lost him for ever.
Dieser Absatz bestätigte nur ihre vorherige Schlussfolgerung. Derjenige, der um Hilfe rief, hatte durch die Folter seinen Verstand eingebüßt.
How nigh was I lost, and to have lost that I should never have gotten again, that was my virginity, for that may never be recovered after it is once lost.
... deadly sin ...
... the master fiend of hell, the which hath power above all devils ...
Seinen eigenen Angaben zufolge war der Hilfesuchende für immer verloren. Verloren auch deshalb, weil etwas zerstört worden war, was unantastbar hätte sein sollen. Irgendwer hatte eine Todsünde an ihm begangen. Vielleicht dieser Typ aus der Hölle, der als Herr über alle Teufel bezeichnet wurde?