„Huh, hätte ich nur gewusst, dass es so anstrengend ist, Musiker zu sein“, warf sie sich aufs Bett und streckte Arme und Beine von sich. Haydn lehnte in der Tür, die Notenblätter immer noch in der Hand und zog wieder die Augenbrauen hoch. „Wo warst du denn die letzten drei Jahre?“ „Wieso?“, hob sie gerade mal den Kopf und ließ ihn dann wieder zurück fallen. „Na, vielleicht bin ich Musiker?“, kratzte er sich die Nase mit einer Ecke des Papiers. „Oh“, sah sie wieder auf. „Ja, richtig“, lachte sie dann und er warf die Notenblätter nach ihr, bevor er ihre Hände packte und sie an den Kopfteil fesselte, ehe sie sich gegen ihn wehren konnte.
Angefangen hatte alles damit, dass sie in dem kleinen Hotel in Montmartre abgestiegen waren in dessen Foyer ein großer schwarzer Flügel stand. Die Rezeption war unbesetzt, aber Haydn schien das nicht weiter zu stören und er nahm ganz selbstverständlich und zielsicher einen Schlüssel von einem der Haken dahinter und Linnea folgte ihm nach oben und den Flur hinunter, bis sie vor einer Tür hielten bei der der Schlüssel passte. Das Zimmer das sie betraten war eindeutig kein reguläres Hotelzimmer. Dafür war es viel zu persönlich. In den Regalen standen Bücher, an den Wänden hingen Bilder, das Dekor war viel zu individuell. Haydn wirkte auch sofort wie zu Hause. Er ging zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und ließ frische Luft herein. Dann zog er seinen Mantel aus und warf ihn über einen der leicht unbequem aussehenden antiken Stühle die um den Couchtisch gereiht waren. Linnea ging durch den Raum und warf einen Blick auf die Bilder. Die meisten davon hatte Haydn gemalt. Wie sie später feststellen würde, hatte er fast alle Bilder gemalt, die in diesem Hotel aufgehängt waren.
„Möchtest du etwas zu trinken?“, kniete er vor einem kleinen Kühlschrank, den sie noch gar nicht gesehen hatte. Darauf standen außerdem eine Kochplatte, ein Minibackofen und ein Wasserkocher. Es war fast so wie eine kleine private Garconniere. „Ich fürchte, ich habe nichts hier“, schloss er die Tür, „aber ich gehe schnell nach unten in die Küche und hole etwas. Oder willst du Tee?“, richtete er sich wieder auf und holte eine Holzschachtel von einem Regal. „Tee ist noch genug da.“ „Tee klingt gut, danke“, setzte sie sich vorsichtig auf die Couch und verschränkte die Hände im Schoß. „Tea it is“, verschwand er in das kleine Badezimmer, um Wasser aufzufüllen. „Aber ich werde trotzdem schnell nach unten telefonieren, dass wir noch Handtücher brauchen. Und Mineralwasser.“ Er setzte den Kocher auf und griff nach dem Telefon.
„Du bist öfter hier“, stellte sie fest, als er aufgelegt hatte und er lachte. „Whatever gave you that idea?“ Sie deutete auf die Gitarre, die unter dem Fenster stand und die sie ebenfalls noch nicht auf Tour gesehen hatte. „Du hast Tourgitarren und du hast private Stücke.“ Über diese Antwort musste er lachen. Damit hatte er nicht gerechnet. „Very well observed“, ließ er dann seine Hand über das glänzende Holz gleiten und hob sie auf. Er strich über die Seiten und ließ sich in einen der Stühle fallen. Wieso konnte sie so was nicht? Wieso war sie so gänzlich unmusikalisch, dass eine Gitarre wie seine nur ein Stück Holz darstellte, dem ihre Finger höchstens ein paar falsche Töne entlockten? „Diese hier hat mir Mamie geschenkt. Sie hat sie von einem Flohmarkt, aber der Klang ist fantastisch. Wenn ich sie als Kind gespielt habe, habe ich mir immer Geschichten ausgedacht, wem sie wohl einmal gehört hat und was schon alles auf ihr gespielt worden ist.“ Er fing an, eine Melodie zu zupfen und dann begann er leise mitzusingen. Es jagte Linnea einen Schauer über den Rücken. Nicht nur, weil es äußerst selten vorkam, dass er in ihrer Gegenwart einfach nur etwas spielte, ohne dabei zu komponieren, sondern viel mehr wegen der Wahl des Liedes. Es war keine Eigenkomposition, Linnea kannte es sehr gut: Es war auf einer der Schallplatten, die ihr Vater so oft aufgelegt hatte. Elias hatte ihr einmal erklärt, um was es in den Lyrics ging, als sie noch zu jung gewesen war, um die Sprache und die Worte zu verstehen und sie hatte den Song immer wieder aufgelegt und sich die Bilder dazu im Kopf bewahrt. Aber als ihr Vager auszog hatte er die Platten mitgenommen und Linnea hatte das Lied so gut wie vergessen. Dass dieser junge Mann vor ihr, der sich manchmal ihr Ehemann nannte und meistens Mistkerl, ausgerechnet dieses Lied ausgesucht hatte, das eigentlich so gar nicht zu ihm passte, war fast zu viel für Linnea. Zu oft wusste er scheinbar zu genau, wer sie war, ohne es wissen zu können. Wieso musste sie ausgerechnet einen Faible für Musiker haben? Konnte sie sich nicht eine etwas weniger komplexe Menschengruppe aussuchen?
Irgendwann klopfte es an der Tür und Linnea schreckte regelrecht aus ihren Träumen und wusste plötzlich nicht, ob sie den Menschen vor der Tür verfluchen sollte oder ihm dankbar sein, dass die Intimität des Augenblicks nun durchbrochen war. Haydn sah kaum auf, als er den Besuch herein rief. Es war eine ältere Dame mit langem grauem Haar, das zu einem dicken Zopf geflochten war. Ihre Garderobe war bunt und lose, passte aber durchaus zu ihrem Typ. „Haydn, mon chéri!“, ging sie sofort auf den jungen Mann zu, der ihr den Kopf hinreckte, ohne die Gitarre abzusetzen. Die Dame beugte sich zu ihm und gab ihm einen dicken Schmatz auf die Lippen. Linnea setzte sich auf. „Schön, dass du wieder mal hier bist“, sagte die Dame in breitem Pariserisch und Linnea hatte alle Mühe es zu verstehen. „Ich habe immer Sehnsucht nach Paris“, antwortete Haydn fröhlich und lehnte die Gitarre nun doch an den Tisch. „Und Paris nach dir“, lächelte die Dame und warf einen Blick auf Linnea, unschlüssig, ob sie die junge Frau bereits kennen gelernt hatte oder ob sie erst gar nicht erst fragen sollte. Haydn zögerte einen Moment und Linnea hatte ihrem Blick standgehalten, selbst zu unsicher, wie sie reagieren sollte.
„Mamie“, setzte er sich dann auf. „Mamie, das ist Léa.“ Das war also seine Großmutter. „Salut“, reichte sie Cyrielle Junot die Hand. „Salut, mademoiselle Léa“, erwiderte sie und damit schien alles wieder in Ordnung zu sein. Cyrielle ging zum Kühlschrank, schüttete den vergessenen Tee weg und machte neuen. Haydn stand auf, um ihr zu helfen und die beiden verfielen bald in ein Frage-Antwort Spiel, dem Linnea nicht mehr folgen konnte und sie nahm eine der Zeitschriften vom Tisch. Sie blätterte darin bis Cyrielle ihr eine Tasse frischen Tee vorsetzte. Die alte Dame blieb vor ihr stehen und musterte Linnea freundlich, bevor sie ihr eine Hand an die Wange legte. „Très adorable“, lächelte sie und ging aus dem Zimmer. „Was hast du ihr gesagt?“, fuhr Linnea herum, aber Haydn zuckte nur die Schultern und nahm seine Gitarre wieder auf. „Ich habe ihr nur gesagt, dass du kein Model bist.“
Später, als der ohnehin schon vorangeschrittene Nachmittag endgültig in den Abend überging, stiegen sie aus dem Bett, hoben die Notenblätter auf und machten sich auf den Weg durch Montmartre. Paris lag in der Dämmerung und der Spätherbst hatte fast alle Blätter von den Bäumen gefegt. Es war relativ kühl und Linnea knöpfte ihren Mantel zu. Sie hatte sich besonders chic gemacht für diesen Abend – die Tatsache, dass sie nun nicht mehr so große Hemmungen zu haben brauchte Haydns Kreditkarte zu benutzen, hatte dabei ein wenig geholfen – und sie trug Kniebundhosen, ein seidenes Trägertop und eine bestickte Jacke unter dem vergleichsweise eleganten Mantel. Sie hatte auch ein wenig geübt, besser auf Heels gehen zu können, aber das Pariser Pflaster ließ sie sich noch ein bisschen an Haydns Arm klammern, der lachend darüber hinwegsah.
Er führte sie in kleines Restaurant, wo man ihn bereits am Eingang freundlich begrüßte wie einen alten Freund und man gab ihnen sofort den besten Tisch im ganzen Raum. „Dich haben wir hier ja schon ewig nicht mehr gesehen“, reichte der junge Kellner ihnen die Menükarten und Haydn zuckte die Schultern. „Ich hatte viel zu tun.“ „Schön zu sehen, dass du uns trotzdem nicht vergessen hast.“ „Wie könnte ich das beste Steak in ganz Paris vergessen?“, zwinkerte Haydn und Linnea lächelte. Er war so unglaublich sexy, wenn er keine Rolle spielte.
„Oh mon dieu, je ne le crois pas!“, kam plötzlich ein weiterer junger Mann aus der Küche auf sie zu gelaufen. „Haydn!“ Der Angesprochene sah auf und sein Gesichtsausdruck war für eine Nanosekunde entsetzt, bevor er sich augenblicklich wieder fing und lächelte. „Mathieu! Das ist ja eine Überraschung…“ Aber keine besonders angenehme, wie Linnea trotzdem sehen konnte. „Ich bin der neue Sous-Chef“, umarmte ihn der junge Mann, der nichts von Haydns plötzlicher Distanziertheit bemerkte. „Das ist ja großartig“, schob Haydn ihn bemüht freundlich von sich. „Gratuliere.“ „Danke, danke. – Oh, pardonnez-moi“, wandte er sich dann an Linnea, die dem Ganzen etwas abseits zugesehen hatte. „Ich habe