»Bring den Jungen hier zum Doc«, sage ich zu ihm. »Er gehört jetzt zu uns, ich will nicht, dass er steife Finger kriegt.« Dann wende ich mich an den Kleinen: »Ich bin Carlo. Aber du darfst Boss zu mir sagen.«
»Tosh«, sagt der Junge und nickt ernst. »Ich bin Tosh Silvers, Boss!«
Kapitel 1
München-Giesing, 23. Mai 2019, nachmittags
»Porca miseria, Chef, Minnie ist kurz vor dem Heckenstallertunnel einfach aus der Karre gesprungen.«
Ich gönne meinem Fahrer keinen Blick, sondern studiere weiterhin die Börsencharts auf meinem Laptop.
»Wer macht denn auch so was, auf dem Mittleren Ring auf die Straße rennen?«, fährt Hugo fort.
»Eine Nutte auf Crystal?«, schlage ich sarkastisch vor, ohne vom Bildschirm aufzusehen.
Hugos sonst so gelassene Stimme klingt um einiges gehetzter, als er mir umständlich zu erklären versucht, weshalb er überhaupt so weit runterbremsen musste, dass Minnie türmen konnte, ohne sich dabei sämtliche Knochen zu brechen. Als er jedoch zu einer Entschuldigung ansetzt, unterbreche ich ihn. »Wladimir liegt mir eh schon ständig in den Ohren, dass Minnie nicht genug Freier schafft. Und dann noch diese überflüssige Aktion heute …« Erst jetzt wende ich mich von den Börsenkursen ab, lehne mich zurück und mustere Hugo kühl.
Der drahtige Mann steht immer noch direkt vor der Tür meines weitläufigen Büros, als könnte ihn der räumliche Abstand zu mir irgendwie vor den Konsequenzen seines Fehlers bewahren. Hugo hält meinem Blick nicht stand. Seine Gesichtsfarbe hat inzwischen einen bläulich-ungesunden Ton angenommen. Der könnte allerdings auch daher rühren, dass der Schein der Neonleuchtschrift des Restaurants Blue Parrot genau in das Fenster meines Büros fällt. Ist im Grunde aber egal. Hugo hat Mist gebaut und das weiß er auch.
»Du hast mich da in eine dumme Lage gebracht. Wo bekomme ich denn jetzt auf die schnelle eine neue Hure für Wladimirs abgewrackten Puff her? Ich habe gerade kein Mädel an der Hand, du vielleicht?«
Hugos Gesichtszüge entgleisen kurz. Hektisch fährt er sich mit einer Hand durch das dunkle Haar. Sehr gut. Ich muss gar nicht darauf hinweisen, dass ich sehr wohl weiß, dass er etwas mit dieser schnuckeligen Küchenhilfe am Laufen hat. Mein Fahrer ist sich dessen ebenso bewusst wie der Tatsache, dass ich nicht zögern würde, sie für seinen Ausrutscher büßen zu lassen.
»Chef … ich klär das mit Wladimir. Er hat doch Kontakte zu den Tschechen, die haben sicher ein neues Mädel für ihn. Ich zahl das auch!«
Ich lasse Hugo ein wenig zappeln. Wladimirs Geschmack ist nicht besonders erlesen, natürlich nicht, sonst würde Minnie wohl kaum bei ihm anschaffen. Hugo käme also ziemlich günstig weg. Ganz abgesehen davon würde ich dem Russen lieber die Fresse polieren, als ihn auch noch dafür zu belohnen, dass Minnie ihm entwischt ist. Aber Hugo ist normalerweise sehr zuverlässig, und Wladimir schuldet mir keine Rechenschaft, da er nicht zu meinen Leuten gehört. Daher entschließe ich mich dazu, meinen Chauffeur damit durchkommen zu lassen. Wenn ich Minnie allerdings nicht wieder in die Finger bekomme, kann ich für nichts mehr garantieren. Ich bin noch lange nicht fertig mit ihr.
»Also gut. Aber ich will die Schlampe zurück. Sieh zu, dass du sie wieder auftreibst.«
»Natürlich, Herr Silvers. Ich kümmere mich sofort darum.«
Ich kann Hugos Erleichterung förmlich riechen. Mein Kopf ruckt kurz in Richtung Tür. Er versteht und verschwindet ohne ein weiteres Wort.
»Maledetto!«, fluche ich, kaum dass ich allein bin. Minnie hat gefälligst in diesem verlotterten Puff die Beine für jeden breit zu machen, der sich nicht zu schade ist, seinen Schwanz in ihre Fotze zu stecken. Was der Boss davon hält, dass uns die Nutte abhandengekommen ist, will ich lieber gar nicht wissen. Falls Minnie nicht längst mit einer Nadel im Arm auf irgendeinem versifften Klo liegt.
Was mich auf eine Idee bringt. Wenn irgendwer in Nullkommanichts rauskriegt, ob es in dieser Stadt eine frische Drogentote oder eine plattgefahrene Hure gibt, dann Georg. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Zwar hätte ich noch einiges zu tun, aber ein kurzer Abstecher in den Keller sollte vor dem Treffen mit dem Boss trotzdem drin sein.
Das hätte ich mir ja früher nicht träumen lassen, dass man als Carlo Cortones Finanzmanager mehr schuften muss als diese aufgeblasenen CEOs, die immer so ernst in die Fernsehkameras gucken, wenn sie erklären, warum sie leider die Kohle der Anleger verzockt haben, bevor sie sich dann mit ihrer Millionenabfindung davonmachen. Das sollte ich mal versuchen!
Wobei die Kerle natürlich unter erschwerten Bedingungen arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die mal eben einem Angestellten damit drohen könnten, seine Freundin in einen Puff zu stecken, ohne dass es ein Riesentheater gibt. Bei mir taucht auch kein Betriebsrat auf, um mich darauf hinzuweisen, dass es unzulässig ist, einem Mitarbeiter die Nase zu brechen, nur weil er fünf Minuten zu spät kommt. Alles in allem fällt es mir also wesentlich leichter, mir Respekt zu verschaffen. Obwohl selbst seriöse Geschäftsleute in den Hinterzimmern des Blue Parrot gerne mal mit fragwürdigen Praktiken liebäugeln, um die Konkurrenz auszuschalten. Vielleicht unterscheiden sich unsere Jobs also doch gar nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheint.
Georgs Reich liegt im Keller direkt neben den Räumen, die ich für entlaufene Huren und ähnliches Gesocks reserviert habe, und die lieber niemand von innen sehen will. Aber für Georg zählt nur, dass es seine Babys schön kühl haben. So bezeichnet er eine ganze Armada von Servern, die meine Stromrechnung in unermessliche Höhen treiben. Aber was tut man nicht alles für einen Weltklassehacker?
Ich trete ein und lasse den Blick über die blinkenden Computer schweifen, als auch schon der Meister der Technik zwischen den Regalen auftaucht.
»Tosh, du bist es«, begrüßt er mich fröhlich lächelnd.
Für jeden anderen meiner Angestellten bin ich Herr Silvers oder Chef. Aber selbst ich muss zugeben, dass zu einem Menschen, den man kennengelernt hat, als er mit einem Strick um den Hals auf dem Geländer der Praterwehrbrücke saß und fest entschlossen war, sich in den Tod zu stürzen, eine besondere Beziehung besteht. Weshalb Georg bei mir eine gewisse Narrenfreiheit genießt.
»Wen hast du erwartet, eine heiße Braut etwa?«, frage ich grinsend zurück, dabei bin ich der Einzige außer ihm, der den Code zum Öffnen der Tür kennt. »Wäre ja nicht schlecht, wenn dir jemand in diesem Kühlschrank mal einheizt.«
Er wird rot. Wie ein Mädchen.
»Habe ich ins Schwarze getroffen?«, foppe ich ihn weiter. »Wie heißt sie denn?«
»Anna.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen und kann mir kaum in die Augen sehen. »Sie ist Synchronsprecherin. Und natürlich würde ich sie nie hier hereinlassen.«
»Na, Hauptsache, sie lässt dich rein. Überhaupt, Synchronsprecherin? Das hört sich doch nach geilen Lippen an. Also, was hängst du hier herum, anstatt dir von dem Mädel den Schwanz lutschen zu lassen?«
»Lass den Scheiß, Tosh!«, krächzt Georg.
»Dann bedanke dich erst mal dafür, dass ich dich dazu gebracht habe, diese alberne Pilotenbrille gegen Kontaktlinsen zu tauschen. Schon klappts mit den Mädels.«
Georg ist fast zehn Jahre älter als ich, aber das ist doch kein Grund, nicht hin und wieder eine Frau abzuschleppen. Auch heute bin ich mir nicht sicher, ob er mir nicht einen Bären aufbindet, damit ich nicht frage, wann zum Teufel er das letzte Mal gevögelt hat. Klar, er ist ein Nerd, und er sieht auch so aus, aber seit er sich den Bart stehen lässt, wirkt er viel cooler. Die Narbe von der Hasenscharten-OP erkennt man auch kaum noch. War ebenfalls ein Rat von mir, der Bart.
Georg schätzt seine Privatsphäre und würde jedem anderen nach so einem Vorschlag