Ich weiß, was er sieht: Einen Mann Ende zwanzig, dunkler Teint, blond gefärbte Haare, Sonnenbrille. Heller Anzug mit einem schwarzen Muskelshirt drunter. Ein Kerl wie aus einem Surfermagazin, wäre da nicht die zentimetertiefe Narbe in meinem Gesicht, die vom Kinn bis fast zum Ohr reicht. Allerdings sorgt dieser Makel dafür, dass jeder hier in der Gegend gleich weiß, mit wem er es zu tun hat. Der Welpe offenbar auch.
Ich nehme die Sonnenbrille ab. »Nur, um sicherzugehen«, frage ich betont höflich, »du bist der Idiot, der es gewagt hat, meinen Neffen Domenico zu bestehlen?«
Bruce muss den Burschen erneut an den Haaren reißen, damit ich eine Antwort bekomme.
»Ich … ich wollte doch nicht …«, krächzt der Kleine.
Das reicht schon. Hauptsache, der Junge hat kapiert, worum es geht.
»Brich ihm einen Finger«, befehle ich Bruce.
Das muss ich meinem Handlanger nicht zweimal sagen. Ohne Federlesen schnappt er sich den Mittelfinger der linken Hand des Kleinen und biegt ihn über seinen eigenen Daumen nach hinten. Ein grässliches Knacken ertönt, als träte man im Wald auf einen trockenen Zweig. Der Junge schreit gequält auf. Bruce lässt ihn los, und sofort taumelt der Bub von uns weg, die verletzte Hand schützend an seine Brust gepresst. Ich kann ein paar Tränen sehen, und sein Mund ist schmerzverzerrt, aber wenigstens plärrt er nicht los wie ein Baby.
»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Niemand bestiehlt die Famiglia.«
»Scheiße Mann! Ich hab dem Typen geholfen!«, jault der Junge und zieht den Rotz hoch. »Ich hab ihn aus der Schlägerei mit den Schlitzaugen rausgeholt und in die Notaufnahme geschleppt.«
Tja, die Welt ist schlecht. Nachdem wir Domenico in einem Krankenhaus wieder eingesammelt hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass ihm der Langfinger zunächst zur Hilfe gekommen war, als ihn ein paar andere Typen angegangen sind. Und ohne die Kickboxnummer, die der Bursche da abgezogen hat, hätten wir ihn vielleicht nie gefunden.
»Deswegen sind auch noch alle Finger dran. Das nächste Mal schneidet Bruce dir einen ab«, erkläre ich lässig. »Frag lieber nicht, wie die Schlitzaugen jetzt aussehen.«
Dann schweigen wir alle. Bruce und ich lehnen dabei unbekümmert am Ausgang, während die Blicke des Jungen unruhig hin und her huschen. Schließlich hält er es nicht mehr aus. »Ihr habt ja jetzt, was ihr wolltet. Warum haut ihr nicht ab?«
»Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen? Die Kohle, die Domenico dabei hatte, zum Beispiel?«
»Den … den Geldbeutel habe ich im Fundbüro abgegeben«, presst der Welpe hervor.
»Mit der Knete?«, frage ich höhnisch. »Du solltest mich besser nicht verarschen, sonst erledigen wir das mit dem Fingerabschneiden gleich hier und jetzt.«
»Das Geld habe ich ausgegeben«, schleudert mir der Kleine entgegen, und in seine Stimme mischen sich Panik und Triumph. »Für eine Jahreskarte. Für dieses Studio.«
»Bruce, such den Besitzer von dem Drecksloch hier und hol das Geld zurück«, befehle ich. »Nimm Domenico mit.«
Domenico krabbelt hinter dem Spind hervor, von wo aus er die ganze Szene mit offenem Mund beobachtet hat, und verschwindet mit Bruce. Ich bin allein mit dem Zwerg.
»Du hast wirklich alles für das hier ausgegeben?«, frage ich und sehe mich abschätzig um.
Der Welpe hält immer noch so viel Abstand wie möglich zu mir, außerdem kämpft er schon wieder mit den Tränen. Diesmal gewinnt er. Stattdessen schreit er mich plötzlich an: »Ja! Damit mir in Zukunft nicht jeder dahergelaufene Ganove einen Finger brechen kann! Damit nicht jeder Stecher meiner Mutter meine Kohle klauen kann! Damit meine bescheuerte Schwester nicht einfach meinen Hund vergiften kann! Aber vor allem …«, hier kippt seine Stimme, »… damit nicht jeder Depp meinen Opa überfahren und ungeschoren davonkommen kann! Und jetzt schneiden Sie mir halt meinen gottverdammten Finger ab, was soll ich schon dagegen machen!«
Das ist ja interessant.
Ich sehe den Jungen an, erkenne die Verzweiflung und die Wut in ihm und den Wunsch, endlich kein Opfer mehr zu sein. Dieses brennende Verlangen in die richtigen Bahnen zu lenken, könnte ihn zu einem perfekten Gefolgsmann machen. »Komm mal her«, sage ich sanft und winke ihn heran.
Er kommt tatsächlich näher. Mutig ist er. Trotzdem ist sein Blick wachsam, blöd ist er also nicht.
»Nur so eine Idee«, schmeichle ich. »Wer zu meinen Jungs gehört, muss sicher nicht in so einem abgefuckten Studio trainieren, um sich Respekt zu verschaffen. Das ist es doch, was du willst. Respekt. Oder Macht? Rache?«
Beim letzten Wort glimmt eine Gier in seinen Augen auf, die ich nur allzu gut kenne.
»Rache also«, locke ich. »Ich kann dir dazu verhelfen.«
»Aber … warum sollten Sie das tun?«, fragt er misstrauisch.
Kluges Kerlchen.
»Die Sache hat natürlich einen Haken. Alle wirklich guten Angebote haben einen winzigen Haken. Ich erwarte von meinen Leuten bedingungslose Ergebenheit.«
Der Kleine runzelt die Stirn, darunter kann er sich offenbar nichts vorstellen.
»Das heißt, wenn ich dein Geld will, wenn ich deinen Hund töten will, wenn ich deine Familie überfahren oder dir einen Finger brechen will, wirst du das klaglos akzeptieren.«
Er sieht mich immer noch argwöhnisch an, als wäre er nicht sicher, wer von diesem Handel mehr profitiert.
»Okay«, sagt er schließlich.
»Gut«, entgegne ich und strecke auffordernd eine Hand aus.
»Äh …«, macht er verdutzt.
»Beweise mir, dass du es ernst meinst. Geld hast du keins, ein Opa oder ein Hund sind gerade nicht am Start … aber neun Finger sind noch übrig, eh?«
Er starrt auf seine Hände. Überlegt er, welche er mir geben soll, oder wie er aus der Nummer wieder rauskommt? Schließlich reicht er mir klugerweise die bereits ramponierte Pfote. Wirklich nicht blöd der Kleine.
Ich lasse mir Zeit. Betrachte in aller Ruhe sein zerschlagenes Gesicht mit den ängstlich geweiteten Augen. Umschließe sein Handgelenk nur leicht – ein Ruck, und er könnte sich befreien. Wir sehen einander an. Seine Lider flattern, aber er rührt sich nicht vom Fleck. Ich nehme seinen Zeigefinger zwischen Daumen und Mittelfinger und biege ihn aufreizend langsam um. Ein Schweißtropfen rinnt seine Schläfe hinunter und er presst die aufgerissenen Lippen zusammen. Offenbar bemüht er sich, ruhig zu atmen, aber die bebenden Nasenflügel verraten ihn. Seine Hand zittert, doch er macht keine Anstalten, sie wegzuziehen. Ich koste den Moment aus, genieße seine Furcht. Er ist zäher, als ich dachte. Obwohl sein Atem schneller und schneller geht und sein Mund nun nicht mehr als ein schmaler Strich ist, steht er immer noch vor mir.
Molto bene! Ein kräftiger Ruck, ein unschönes Knacken, er schreit auf, bevor er stöhnend auf den Boden sackt.
»Scheiße«, jammert er, und umklammert die verletzte Hand mit der gesunden. Aber schon kurz darauf rappelt er sich auf. Doch, der Kleine gefällt mir.
»Was wird jetzt aus dem Training?« Seine Stimme bebt nur ganz leicht. Gut, da kann er gleich was lernen.
»Unwichtig. Es geht nicht darum, dass du stärker als alle anderen bist. Pass auf: Du hast jetzt zwei gebrochene Finger, eh? Welcher, denkst du, bedeutet mir mehr – der, den Bruce dir mit Gewalt gebrochen hat, oder der, den du mir freiwillig gegeben hast?« Ich lasse ihm einen Augenblick, um das zu verdauen, dann fahre ich fort: »Du kannst in unserem