„Komm mit in die Küche. Wir kühlen deine Prellungen.“ Sie führte mich in den besagten Raum und ich nahm am Esstisch Platz, wobei ich ihr dabei zusah, wie sie eine Kältekompresse in ein Handtuch wickelte und zu mir kam.
Ich zog scharf die Luft ein, als sie erneut einen kurzen Schmerz entfachte, bevor die lindernde Wirkung einsetzte und ich mich langsam wieder entspannte.
„Du siehst furchtbar aus. Gibt es vielleicht irgendwelche Zeugen?“, durchbrach sie schließlich die Stille, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste nicht, ob es neben Alex noch jemand gesehen hatte, aber es war auch egal. Ich wollte meine Klassenkameraden nicht anzeigen.
„Ich habe zumindest keine gesehen“, meinte ich ruhig und die Sorge in den Augen meiner Mutter wuchs noch einmal, weshalb ich versuchte zu lächeln. Doch ich spürte, dass es nicht funktionierte und ich glaubte, mittlerweile Tränen bei ihr zu sehen.
„Wir müssen Anzeige erstatten, Felix. Und wenn auch nur gegen Unbekannt. Vielleicht hat ja doch jemand etwas gesehen“, sprach sie wieder das Thema an, das ich nicht wollte, woraufhin ich den Kopf schüttelte: „Nein, das bringt doch nichts. Du weißt doch, wie die Menschen sind. In solchen Momenten hat niemand etwas gesehen. Das ist reine Zeitverschwendung.“
Ich bemerkte, dass es ihr nicht gefiel, doch sie gab schließlich nach: „Wenn du meinst. Pass bitte besser auf dich auf. Du bist mein einziger Sohn und ich will dich nicht verlieren.“
Ihr einziger Sohn… ihr schwuler Sohn…
Ob sie mich noch so liebevoll behandelte, wenn ich ihr sagte, wie ich mich fühlte und was wirklich geschehen war? Wenn ich ihr sagte, was für Menschen ich liebte und attraktiv fand? Könnte sie mich dann noch lieben oder hasste sie mich dann auch?
Im nächsten Moment ging die Wohnungstür auf und mein Vater meldete sich zurück: „Hallo, Schatz. Ich bin heute ein wenig früher weg, weil die Arbeit nicht genug war.“
Er trat in die Küche und sah mich überrascht an, bevor er dann auch zu mir eilte. „Felix?! Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?“
„Irgendwelche Fremden. Ich weiß es nicht“, log ich weiter und er sah mich noch einmal an, bevor er dann breit grinste: „Aber du hast hoffentlich auch ein wenig zurückgeschlagen. Bist ja schließlich keine schwächliche Tunte, oder?“
Die Bezeichnung tat weh und ich zwang mich zu einem Nicken durch. Ja, vielleicht würde es meine Mutter verstehen, doch für Vater wäre ich gestorben. Er hasste Menschen wie mich und war der Meinung, dass dies keine richtigen Männer wären sondern alles nur Waschlappen. Ich musste lügen. Weiter lügen.
„Oh, du hast einen Zahn verloren. Ich hoffe, dass dein Gegner auch nicht mehr alle hat, oder?“ Er wirkte stolz auf mich. Als wäre man nur ein richtiger Mann, wenn man sich geprügelt hatte und ich nickte erneut. Ich konnte nicht sprechen, denn die Verzweiflung schnürte mir meine Kehle zu.
Niemand würde mich akzeptieren, so wie ich war. Nur Alex. Ja, nur für Alex war ich immer noch ein normaler Junge. Aber für alle anderen musste ich entweder lügen oder das Monster sein, dass sie hassten und vernichten wollten…
Der nächste Tag kam. Die Torturen gingen weiter. Immer wieder wurde ich gehänselt, geschubst, geschlagen und bespuckt. Ab und an stellte man mir ein Bein, doch ab den zweiten Mal konnte ich mich jedes Mal wieder selbst fangen und einen Sturz verhindern.
Ich ignorierte es so gut es ging. Den Schmerz in meinem Körper und auf meiner Seele. Vermied den Kontakt zu Alex, damit er nicht auch noch in diese Situation mit hineingezogen wurde. Wich ihm immer wieder aus, wenn er mich sah und auf mich zu gerannt kam. Nein, ich könnte nicht verantworten, wenn er ebenfalls Schläge bekam, weil er in meiner Nähe war. Da musste ich alleine durch.
Es ging meistens gut. Langsam bekam ich ein Gefühl dafür, wann sie kamen, um mir zu schaden und konnte ihnen gekonnt ausweichen. Kapselte mich von Mal zu Mal mehr ab. Wurde immer stiller und in mich gekehrt. Die besorgten Blicke meiner Eltern ignorierte ich, genauso wie die Hartnäckigkeit von Alex.
Es vergingen Wochen und ich nahm langsam an Gewicht ab, weil ich keine Ruhe fand, um zu essen oder mir schlichtweg der Appetit fehlte und die Blicke wurden besorgter. Doch sie schienen nicht zu wissen, wie sie es ansprechen sollten. Auf die Frage „wie es mir geht“, bekamen sie nur die Standartantwort „gut“.
Nach und nach hörte auch Alex auf, zu mir kommen zu wollen und ich verkroch mich immer mehr in den dunklen Ecken des Schulgebäudes, um dort meine Ruhe zu haben. Hin und wieder weinte ich stumm für mich alleine. Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte und wünschte mir, dass ich irgendwo anders sein könnte. Dass ich den Tag noch einmal erleben könnte und alles zurücknehmen. Ich wollte wieder in der Lüge leben, dass ich Mädchen liebte. Mein Outing war ein riesiger Fehler gewesen.
„Felix?“ Ich saß am Esstisch und stocherte eher lustlos in meiner Mahlzeit herum, die irgendwann vor meiner Sezierung mal ein Schnitzel mit Pommes gewesen sein musste, als mich meine Mutter besorgt ansprach.
Nur träge hob ich den Kopf und sah sie an. Die Sorge in ihren Augen war allgegenwärtig, wodurch ich sie schon gar nicht mehr richtig wahrnahm und wartete darauf dass sie weitersprach.
„Wir haben einen Termin für dich ausgemacht und wir möchten, dass du ihn wahrnimmst“, redete sie weiter und schien auf irgendeine Reaktion von meiner Seite zu hoffen, doch ich blieb regungslos.
Ich fühlte nichts dabei, als sie mir das sagte, wobei ich meinen Blick wieder auf mein zerlegtes Essen gleiten ließ: „Wann und wo?“
„Diesen Freitagnachmittag gleich nach der Schule und zwar bei dem Psychologen Dr. Kreuz“, erklärte sie weiter und ich zuckte zusammen. Sie schickten mich zum Psychologen?! Hatten sie nicht mehr alle? Was sollte mir dieser Seelenklempner schon bringen? Er würde nur herumstochern und noch mehr kaputt machen! Hatten sie nicht mehr alle Tassen im Schrank?
„Warum?“ Meine Stimme war nur ein Krächzen und erneut tauschten sie besorgte Blicke aus, bevor dann mein Vater zu sprechen begann: „Weil wir dir nicht mehr glauben, dass mit dir alles in Ordnung ist und wir wollen nicht, dass du an irgendetwas zerbricht, dass du in dich hineinfrisst. Du willst nicht mit uns reden, also hoffen wir, dass du bei einem Psychologen, der zum Schweigen verpflichtet ist, vielleicht offener wirst.“
Ich verstand ihre Sorge und ich wünschte mir auch, dass ich anders handeln könnte. Doch mit wem sollte ich reden? Alle verachteten mich oder ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen.
Die aktuelle Situation hatte mich einfach zum Schweigen verdammt. Ich kam nicht mehr vor und zurück und daran würde auch ein Psychologe nichts ändern, dennoch nickte ich und seufzte resigniert: „Okay, wenn es euch dann besser geht, werde ich ihn besuchen. Versprecht euch aber nicht zu viel davon.“
„Danke, Schatz.“ Meine Mutter wirkte glücklich und es tat weh. War sie so leicht zufrieden zu stellen oder gar zu beruhigen? Warum sah sie es nicht, dass ich innerlich vor Schmerzen schrie? Könnte sie mich nicht einfach in den Arm nehmen und sagen, dass sie mich liebte?
Ich spürte erneut, wie Tränen in meinen Augen brannten, wodurch ich die Gabel niederlegte und mich erhob. „Ich hab keinen Hunger mehr.“
„Aber du hast gar nichts gegessen“, protestierte meine Mutter, doch ich ignorierte es und ging einfach in mein Zimmer zurück, das ich auch sogleich abschloss. Dort ließ ich mich auf mein Bett fallen, um erneut zu weinen.
Sie sahen es alle nicht. Wagten sich nicht an mich heran und sie nahmen mich nicht mehr in den Arm. Keiner mochte mich mehr. Ich fühlte mich alleine und verloren. Die Tatsache, dass man mich nun zu einem Psychologen schickte, machte es nicht gerade leichter für mich.
Was sollte ich diesem Kerl denn sagen? Würde er meine Situation überhaupt verstehen? Was tat ich, wenn er mich dann plötzlich auch hasste?
All