Je länger die Fahrt in die Wüste dauerte, umso unsicherer und aufgewühlter wurde ich. Was war geschehen? Was hatte das alles zu bedeuten? Was machte es für einen Sinn lange Meditationen einzuhalten? Klar, es ging mir viel besser, aber meine Angst vor dem Menschsein-An-Sich hatte noch mehr zugenommen. Die Meditation hatte Kräfte freigesetzt, die ich nicht mehr steuern konnte. Ich spürte, wie das eigenartige Flimmern in meinem ganzen Körper zunahm, während der Bus immer tiefer in den Wüstenstaat Rajasthan hineinfuhr. Wie üblich wählte ich meine Ziele intuitiv. Oftmals nur aus einer Laune heraus, weil mir der Name eines Ortes besonders gefiel. Zwei Tagesreisen von Jaisalmer entfernt, der fulminanten Wüstenfestung in Rajasthan, machte ich wieder Halt in einer kleinen Stadt und flüchtete schnell in ein einfaches Hotel für Pilger. Mein eigener Körper schien mir von Minute zu Minute unerträglicher. Langsam bahnte sich die nächste Krise an. Ich lag auf dem Bett des Hotels im abgedunkelten Zimmer und begann wieder zu schreiben. Alles, was in meinen Gedanken auftauchte, bannte ich aufs Papier, um zu verstehen was vor sich ging. Ich legte mich auf den Boden, schrieb weiter, die Schrift wurde immer unleserlicher, am Ende schossen nur noch wilde Striche über die Papierseite. Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper und kratzte nur noch auf dem Papier herum. Plötzlich fand ich mich, halb willentlich, halb gestoßen, im Kopfstand wieder und mein Verstand schien abzustürzen, kreisend ins Endlose zu fallen. Das musste der Eintritt in den Wahnsinn sein, dachte ich noch schnell, als sich der Raum um mich zu drehen begann und immer mehr bunte Kreise um mich herumwirbelten. Aber nicht der Wahnsinn suchte mich heim.
Plötzlich durchströmte Liebe das Herz, den entblößten Körper, die verlorenen Gedanken. Am Grunde meines Absturzes fand ich tatsächlich die Liebe. Der Ursprung von allem ist Liebe. Alles entstand daraus, alles lebte davon. Das Gefühl breitete sich in jeder Zelle aus. Liebe. So einfach war das.
Ich verließ unmittelbar das Zimmer und lief staunend und strahlend durch die Stadt, deren Name ich bis heute nicht weiß. Setzte mich in einen leeren, vollständig in Hellblau gestrichen Chai-Shop, ausgeleuchtet mit hellen Neonröhren, und starrte hinaus auf die Straße, wo es seltsamerweise leicht zu regnen begann. Alles ist ursprünglich durchdrungen von Liebe. Alles. Das ist der einzige Sinn des Lebens. Liebe. Der Chai-Shop Besitzer strahlte mich mit großen Augen an, als wüsste er das längst und ich lächelte zurück.
Ich ging zurück in das Hotel, packte meine Sachen wieder zusammen und nahm am frühen Morgen den nächsten Bus. In Ajmer, meiner nächsten Station, stieg ich aus und spazierte durch die Stadt. Mittlerweile war es mir vertraut angestarrt zu werden, aber diesmal geschah etwas sehr Seltsames. Ich hatte mich gerade an einen Tisch eines Chai-Shops gesetzt, der sich in der Mitte eines sehr großen Platzes befand, als immer mehr Menschen sich offenkundig um meinen Tisch drängten. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ihre Blicke mir galten und ich schaute verwirrt auf. Eine riesige Menschenmenge hatte sich um meinen Tisch versammelt. Ein stattlicher älterer Mann, stolz und mit stechenden Augen, dem typischen Schnauzbart der Rajasthanis tauchte neben mir auf und bat mich energisch mitzukommen. Dies sei nicht der richtige Platz für mich. Ich sollte solche Orte meiden. Ich sagte ihm, dass ich nichts kaufen wollte und auch nichts „unbedingt“ sehen müsste und lieber hier bleiben wollte. Zu guter Letzt überzeugte er mich jedoch und führte mich durch die neugierige Menge in sein Geschäft, das in einer engen Gasse lag. Es war bis zum Rande vollgestellt mit Antiquitäten und Schmuck aus Rajasthan. Tee wurde aufgetragen und wir saßen mehrere Stunden zusammen und er führte mir seine Schätze vor. Beim Abschied riet er mir noch mal, Plätze mit vielen Menschen zu meiden, und brachte seine zwei jungen Söhne zu mir, damit ich mich von ihnen verabschieden konnte. Auch die weitere Fahrt war geprägt von weiteren Merkwürdigkeiten und wildfremden Menschen, die mich ungefragt und freundlich einluden. Ich war heilfroh, als ich mich wieder in das Meditationszentrum in Jaipur zurückziehen konnte.
Dieser Ort der Meditation, Dhamma Mahi genannt, liegt in einem stillen Tal, ist viel kleiner als die Vipassana-Akademie in Igatpuri und war in dieser Zeit nur von wenigen Meditierenden besucht. Es lag hinter dem Monkey Hill, einem kleinen Hügel, der Jaipur mit einem einfachen Tempel überragt, auf welchem von den Sadhus und Babas Tag und Nacht zu Gott Rama gesungen wird. Auf diesem Berg leben hunderte von sogenannten heiligen Affen, die täglich mit einem LKW voll Bananen gefüttert werden. Oben auf dem Berg streift der Blick über ganz Jaipur und den einzigartigen Maharaja Palast „Palace of Winds“, der völlig in Pink angemalt ist. Rechter Hand türmt sich die riesige Nahargarth-Festung auf, welche die ganze City überragt. Der Lärm, der von der Stadt aufsteigt, ist ohrenbetäubend. Hinter dem Monkey Hill, auf dem langen Fußweg zum Vipassana-Zentrum liegt eine verfallene, uralte Tempelanlage und ein wunderschön-blühender Park, der von schreienden Pfauen und wilden Papageien bewohnt wird.
Das Meditationszentrum in den Bergen von Jaipur hatte ebenfalls eine Pagode und war für circa hundert Meditierende eingerichtet. Es herrschte große Stille im Tal und nur am frühen Morgen schrien die Papageien. Ich begann einen sogenannten Selbstkurs, der nach dem gleichen Tagesrhythmus ablief, wie ich es schon kannte, aber von mit, selbst, ohne Begleitung eines Lehrers oder einer Lehrerin, organisiert werden musste. Die Meditationen unterbrach ich nur für ein paar Stunden Gartenarbeit jeden Tag und außer dem Caretaker war ich der einzige Gast im Zentrum.
Insgesamt hielt ich mich fast fünf Wochen an diesem Platz auf, belegte noch mal zwei geführte 10-Tageskurse und verbrachte die meiste Zeit in Meditation.
Als ich den stillen Ort Ende Januar zusammen mit einem Freund wieder verließ, den ich im Zentrum kennengelernt hatte, waren meine Muskeln im ganzen Körper so sehr entspannt, dass ich kaum einen Bleistift halten konnte. Meine Zwanghaftigkeiten waren verschwunden. Ich aß normal und auch mein Fliehen-wollen vor der Welt und ihren Herausforderungen war nicht mehr vorhanden. Ich fühlte mich sehr geläutert. Es war sehr seltsam, die Aufmerksamkeit wieder dem normalen Treiben in der Welt zu widmen.
Wir hatten gemeinsam beschlossen ins Landesinnere von Indien, in den Bundesstaat Madhya Pradesh, zu reisen. Unsere Reiseroute führte mit der Bahn den Narmadafluss entlang. Ein paar Kilometer nach Bhopal nahmen wir einem Bus, der uns in eine Gebirgsregion brachte, die heute Satpura National Park genannt wird. Mein Begleiter kannte sich sehr gut aus und hatte die letzten fünfzehn Jahre in Indien verbracht. Er war sicher doppelt so alt wie ich, hatte eine Drogenkarriere als Junkie hinter sich und seine Sucht mit Hilfe der Vipassana-Meditation besiegt. Wir fuhren immer tiefer in die Berge hinein, deckten uns in einer kleinen Stadt auf einem Hochplateau mit Lebensmitteln für zwei Wochen ein und wanderten mitten in den indischen Urwald zu einem Ort, den die Ureinwohner, die Gond-Baba, von den Adivasi-Stämmen8 „Shiva Mundi“ die „Stille des Shivas“ nannten. Shiva ist einer der wenigen Götter, der auch von den nicht hinduistischen Gond-Baba als Gott verehrt wird. Shiva soll der Legende nach in dieser Gegend von einem Dämonen verfolgt worden sein, springend von Hügel zu Hügel, hinterließ er überall seine Spuren, die nun als Plätze für Gebete und Rituale dienen. Die ganze Gegend ist übersät mit Höhlen und Kultplätzen, die weit in die frühe Menschheitsgeschichte zurückreichen und in denen bereits die Menschen der Steinzeit lebten. In vielen Höhlen kann man noch steinzeitliche Höhlenmalereien erkennen. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass diese Plätze von hinduistischen und buddhistischen Mönchen vor vielen Jahrhunderten zur Meditation und zum Rückzug genutzt wurden.
Da den Ureinwohnern Bäume als heilig gelten, stehen überall riesige, uralte Exemplare von ungeheuerer Kraft und überwältigender Würde.
Wir durchquerten hohe und dichte Bambuswälder und kamen an Mangobäumen vorbei, die eine unglaubliche Größe hatten und in deren Kronen Affen kreischten und gefährlich herumtollten. An einem der Hauptheiligtümer zu Ehren Shivas füllten wir unsere Vorräte noch einmal auf und sahen wieder dutzende von Höhlen, die meist mit einer aufgerichteten, aus dem Stein gemeißelten schwarzen Kobra, dem Zeichen Shivas geschmückt waren. Wir zogen auf unwegsamen Pfaden immer tiefer in den Urwald hinein und fanden schließlich die Stelle, die wir suchten.
Ein indischer Baba sorgte sich um den Platz mitten im Dschungel, der aus 20 bis 30 kleinen und großen Höhlen