Als Vorbereitung kaufte ich vier Landkarten von dem gesamten indischen Subkontinent, ein Hindulexikon und nähte mir in einer langwierigen Prozedur das Outfit eines Troubadours. Ich schrieb mein Testament, in dem ich alles meinen Freunden vermachte und setzte mich ohne bestimmtes Ziel im Oktober 1987, kurz vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag, ins Flugzeug, Ziel die Stadt Mumbay, welche damals noch Bombay hieß.
Bei der Landung auf dem Flughafen von Mumbay, der mitten in den Slums lag, erlebte ich meine erste unbegreifliche Ent-Täuschung. Noch nie hatte ich so viel Elend und Leid gesehen. So viel Kummer, zusammengedrängt auf einer scheinbar unendlichen Fläche. Die verarmten und verwahrlost aussehenden Kinder der Slums drückten sich die Nasen an den Fensterscheiben des Flughafengebäudes platt und Polizisten scheuchten sie mit groben Worten davon. Jeder der Mitreisenden riet mir, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen und ich folgte dem Rat und reiste noch am gleichen Tag mit dem Bus nach Goa weiter. Dort akklimatisierte ich mich in einer stillen paradiesischen Bucht, die noch unerschlossen vom Tourismus, mit einem Süßwassersee direkt hinter dem Strand, umgeben von riesigen Banyan-Bäumen vor sich hin träumte. Beim ersten Spaziergang an der Küste entlang lernte ich einen indischen Mann mit dem Namen Kali kennen, der ein Anhänger des gerade verstorbenen Meisters Babaji aus Haidakhan war. Er gab mir Tipps von heiligen Hindu-Pilgerorten, die ich in den nächsten Wochen alle aufsuchte und lud mich in den Ashram von Babaji im Himalaya ein. Nachts saß er oft betend am Feuer, sang zu Ehren seiner Göttin Kali, deren Namen er auch trug, und ließ die Flammen Tag und Nacht nicht ausgehen.
Während meiner weiteren Reise zu den hochgeschätzten Pilgerorten der Hindus schlief ich meist draußen oder in den Tempeln. Die Sadhus, denen ich begegnete, sahen meist bekümmert und krank aus, gezeichnet von ihrer harten Askese und nur wenige hatten glückliche Augen. Das Leid der Frauen und Kinder in den Dörfern war schrecklich und erbarmungslos. Die Unberührbaren schliefen überall, und überall sah man schwerst arbeitende Kinder und Frauen, die Straßen bauten oder ausbesserten. Die indische Gesellschaft war mir fremd. Wie konnte eine Religion so etwas zulassen? Gleichzeitig begegneten mir so viele lachende und glückliche Menschen, wie ich es noch nie vorher an irgendeinem Ort kennen gelernt hatte. Nach vier Wochen umherreisen strandete ich desillusioniert in Südindien in einem Naturschutzreservat. Quartier hatte ich bei einem Deutschen namens Klaus gefunden, der eine indische Frau geheiratet hatte und vom Pfefferanbau und den Touristen, die bei ihm logierten seinen Lebensunterhalt bestritt. Nach wie vor war mein täglicher Altar die Kloschlüssel – auch in Indien. Die Verzweiflung wuchs und wuchs, ich schrieb Seiten über Seiten in mein Tagebuch, aber ich führte das gleiche Leben wie in Deutschland. Es gab kein Entkommen. Ich suchte keinen Ashram, keinen Guru, ich wollte frei sein.
Eines Nachts saß ich im Vollmondlicht auf der Veranda, vor mir die drei Meter hohen Pfefferstauden. Wieder überkam mich das fast zwanghafte Verlangen diesem Leben ein Ende zu machen, verrückt zu werden oder den Körper zu verlassen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Alles tat mir weh von dem täglichen Fressen und Kotzen, und mein Mund hatte sich durch den Verzehr von unreifen Papayas, die ich mir gierig einverleibt hatte, entzündet. Schreibend und flehend, die Mondgöttin inständig bittend, überstand ich wieder eine Nacht. Am nächsten Tag erzählte mir Klaus von Vipassana, einer buddhistischen Meditationstechnik, die er in einem Meditationszentrum in Igatpuri, einem Dorf in der Nähe von Mumbay kennen gelernt hatte. Da war auf einmal ein Ausweg. Ich packte noch am selben Abend meine Sachen zusammen und brach in aller Eile auf. Die Reise führte mich über 2000 km von Kerala, einem Bundesstaat im Süden von Indien, nach Igatpuri, einem kleinen Ort im indischen Staat Maharashta, ungefähr fünf Busstunden östlich von Mumbay gelegen. Ich war Tag und Nacht mit dem Bus unterwegs und sollte dank Unterstützung vieler freundlicher Menschen am Morgen vor Beginn des Meditationskurses dort ankommen. Der letzte Teil der Busfahrt führte durch eine sehr weite Ebene, die seitlich von großen felsigen Gebirgszügen begrenzt war. Die Himmel leuchtete klar und blau. Um mich herum saßen die indischen Menschen schlafend und eingehüllt in ihren Decken und Tücher, um sich vor der morgendlichen Kühle zu schützen, während der Bus über die marode Straße holperte. In einer kleinen Stadt, zwei Stunden von meinem Zielort entfernt, bestieg ein junger Mann den Bus. Gekleidet in dunkelrotes Tuch setzte er sich neben mich. Wir begannen ein Gespräch und er erzählte mir, dass er nach Ganeshpuri5 unterwegs sei zu dem Ashram seiner Meisterin, die er Gurumayi nannte. Ich verstand nur Bahnhof. Ganeshpuri schien ein Dorf zu sein, das erst einige Kilometer weiter nach Igatpuri angefahren wurde. Er packte einen Bildband aus und zeigt mir die farbigen Bilder der Gurumayi. Sie war ebenfalls ganz in rot gekleidet, sah sehr schön aus, erotisch und erhaben. Er bat mich, während der Dauer unserer Unterhaltung immer inständiger nach Ganeshpuri mitzukommen, um seine Meisterin zu sehen. Ich kapierte immer noch nicht, was er eigentlich von mir wollte und wies seine Bitten freundlich und bestimmt zurück. Als ich den Bus verließ begann der Mann zu weinen. Tränen rannen aus seinen Augen. Er schaute mir enttäuscht durch die Fensterscheiben nach, während der Bus hupend weiterfuhr.
Schnell vergaß ich die merkwürdige Begegnung im Bus und lief zum Meditationszentrum hinauf, welches oberhalb der Stadt lag, durch die Straßen und Gassen, die vom Lärm der hupenden Autos und der Hindi-Pop-Musik aus vielen Lautsprechern eingenommen war. Eine große Pagode mit einer hoch aufragenden goldenen Spitze überragte das buddhistische Zentrum, in dem zum damaligen Zeitpunkt für mehrere hundert Menschen ein Meditationskurs abgehalten werden konnte. Nach der Registrierung wurde ich freundlich aufgefordert meine Kleidung zu wechseln, da ich sehr extrovertiert wie ein umherziehender Troubadour unterwegs war. Für die Dauer des Meditationskurses stellte man mir einen einfachen indischen Lungi6 und ein normales T-Shirt zur Verfügung. Ein Vipassanakurs, gelehrt in der Tradition von Sayagyi U Ba Khin und dessen Schüler S.N. Goenka, der diese vergessene Meditationspraxis von Burma zurück nach Indien gebracht hat, wird in vollkommenem Schweigen über 10 Tage abgehalten. Zur Meditation setzen sich die Praktizierenden in eine spezielle Halle, empfangen dort von einem Lehrer oder einer Lehrerin die Instruktionen und praktizieren damit von den frühesten Morgenstunden bis in den späten Abend. Alles geschieht im Sitzen und in Stille. Die ersten drei Tage der Meditation bestehen aus Anapana, der Beobachtung des Atems, wie er ein- und ausfließt. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit geschärft und der Geist zur Ruhe gebracht. Ab dem vierten Tag wird Vipassana gelehrt. Die Meditierenden beginnen Körper, Emotionen und Gedanken in einer bestimmten Art und Weise zu beobachten, die immer mehr verfeinert wird. Dabei wird Anicca7 offenkundig. Alles kommt und geht.
Ich fühlte mich sofort zu Hause, ich wollte nicht mehr weglaufen. Am besten gefiel mir das Schweigen und die Befreiung, für ein paar Tage nicht mehr für mein Essverhalten verantwortlich zu sein. Die Speisen wurden morgens und abends ausgeteilt, am Nachmittag gab es nur Obst, das war alles. Die Meditationssitzungen begannen in den frühen Morgenstunden, wurden nur durch kleine Pausen und die Essenszeiten unterbrochen und dauerten bis in den späten Abend, wo die neue Unterweisungen für den nächsten Tag gegeben wurden.
Ich hielt mich genau an die Disziplin und die Regeln und verschärfte sie sogar, indem ich meine Meditationszeiten noch ausdehnte. Ich wollte mit meinem Willen die körperlichen Grenzen von Schmerz und psychischer Verzweiflung durchbrechen.
Am vierten Tag brach mein bisheriges Selbstbild zusammen, ich gab meine sinnlose Selbstkasteiung auf. Ich erkannte meine tiefe Verachtung für das menschliche Leben, meinen Trieb zur Selbstzerstörung und meinen versteckten Zynismus. Es war eine grundlegende und erschütternde Läuterung, wie wenn Masken und Schichten vom Körper abfielen. Ich befürchtete alle im Zentrum könnten nun sehen, dass ich bisher nur die Maske der Freundlichkeit getragen hatte, aber darunter die grundsätzliche Verachtung für alle äußerlichen und materiellen Dinge schlummerte. Aber natürlich ging es den über hundert Kollegen und Kolleginnen im Zentrum nicht anders und ich musste über meine neuerlichen Probleme lachen. Keine Visionen oder spirituellen Zustände tauchten mehr auf. Meine Fressanfälle hörten schlagartig auf, aber ich spürte die Ängste und Freuden der Welt noch intensiver als früher. Als ein anderer Mensch verließ ich nach dem Kurs diesen wundervollen Ort mit dem Namen Dhamma Giri, den Hauptsitz der Vipassana-Akademie. Es fiel mir sehr schwer zu gehen und ich hatte keine Vorstellung, wie ich nun im Leben zurechtkommen sollte. Ein merkwürdiges Flimmern umgab meinen Körper und selbst einen anderen Mensch nur anzublicken