Was Menschlich Ist. Sebastian Kalkuhl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Kalkuhl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754921586
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den Boden. »Was ist passiert, dass du mir jetzt auf einmal helfen willst?«

      »Wer bist du?«, erwiderte Dorian. Eine sinnvollere Antwort wusste er nicht.

      »Mein Name ist Chris. Ich bin ein Mensch, den du in die Hölle entführt hast und der danach aus welchen Gründen auch immer mit Flügeln aufgewacht ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du sonst noch von mir hören willst.«

      ›Er ist ein Mensch.‹ Je öfter Chris das wiederholte, desto weniger hörte es wie Unsinn an.

      »Ich habe nichts gesehen«, murmelte Dorian unwillkürlich und wollte sich an den Worten festhalten, aber sie zerronnen ihm zusehends zwischen den Fingern. »Ich habe nichts gesehen.«

      Chris legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Du warst doch die ganze Zeit bei mir, oder nicht?«

      »Ich…«

      »Warte. Fangen wir ganz von vorne an.« Dorian hatte erwartet, dass Chris wütend klang, verletzt, und in jedem Fall deutlich emotionaler. Stattdessen machte er den Eindruck, als wollte er ein Rätsel lösen und bräuchte noch mehr Hinweise. »Luzifer schickt euch auf die Erde, um Menschen umzubringen. Aber nach welchen Kriterien sucht er seine Opfer aus?«

      »Meistens gibt er uns nur ein Gebiet auf der Erde vor«, antwortete Dorian. »Wen wir dort töten, bleibt uns überlassen.«

      Mit einem tiefen Seufzen legte Chris den Kopf in den Nacken und starrte einen Moment lang Löcher in die Luft. »Das heißt, das alles war nur reiner Zufall?«

      »Ja.« Das Wort hing bleiern in der Luft und verlangte nach Fortsetzung. »Es tut mir leid.«

      Ein mattes Lächeln schlich sich auf Chris’ Gesicht, gab aber keine Auskunft darüber, ob er Dorian glaubte oder nicht. »Du wusstest es nicht besser, oder?«

      »Nein.« Bis vor zwei Wochen hatte Dorian nie auch nur eine unnötige Frage gestellt, und jetzt rieselten sie kontinuierlich auf ihn herab wie Staub von der baufälligen Decke. Dieses Gespräch sollte ihm vor Augen führen, dass Luzifer Recht behielt, und die Welt noch genauso funktionierte wie vor zwei Wochen. Doch mit jedem gewechseltem Wort fühlte er eine fremde Art von Schuld in sich wachsen, ein Bedauern gegenüber jemandem, der ihm völlig fremd sein sollte. Dorian sollte Chris hassen, aber stattdessen kam er sich in seiner Unsicherheit beinahe verstanden vor.

      Er musste fragen. »Bist du wütend?«

      »Ganz ehrlich? Keine Ahnung.« Chris sah aus, als stellte ihn das selbst nicht zufrieden. »Ich sollte es sein. Und vielleicht würde ich auch tatsächlich auf dich losgehen, wenn ich nicht so müde wäre, aber… Ich weiß auch nicht. Ich glaube, zum Verarbeiten hatte ich einfach keine Zeit.«

      Dorian nickte, als könnte er das nachvollziehen. Tatsächlich fiele es ihm leichter, mit unverhohlener Wut umzugehen, als mit dem hier. War es das, was Chris so menschlich machte?

      »Warum hast du mich eigentlich nicht auch noch umgebracht?«

      »Wenn uns ein Mensch sieht, sollen wir ihn mit in die Hölle nehmen.«

      »Und was passiert dann?«

      »Ich weiß nicht.« Dorian musste Chris nicht ansehen, um zu wissen, dass er ihm das nicht glaubte. »Luzifer hat mir befohlen zu gehen, aber ich bin geblieben. Er hat dich zurückgeholt, ich weiß nicht wie, und er hat dich… verändert. Erst warst du ein Mensch. Und dann hattest du Flügel und seine Augen.«

      »Ich hab auch noch…« Hektisch rieb sich Chris übers Gesicht und hinterließ gerötete Wangen. »Ich sehe aus wie ihr.«

      »Aber wir sind Engel.«

      »Luzifer hat euch gesagt, dass ihr welche seid.«

      Daran erinnerte sich Dorian, als wäre es gestern gewesen. Wie er aufwachte und sein Meister ihm erzählte, was passiert war, wie seine Verwirrung Dankbarkeit wich, wie er Luzifer jedes Wort geglaubt und zu seiner Identität gemacht hatte.

      »Mir auch«, fuhr Chris fort, als wäre ihm die Wirkung seiner Worte nicht bewusst. »Er hat wohl erwartet, dass ich ihm das abnehme, aber ich weiß, dass es gelogen ist. Ich glaube, ich weiß das als einziger von euch. Irgendwas ist mit mir schiefgelaufen.«

      »Ja.« Die Teile fügten sich von selbst zusammen. »Ich habe Luzifer abgelenkt, weil ich geblieben bin.«

      »Ah.« Chris lehnte seinen Kopf an die Wand und fasste sich an die Stirn. »Was für eine Scheiße.«

      Dorian nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Er rollte die zweite Wasserflasche zu Chris herüber, der sie schweigend entgegennahm und zu der anderen neben sich stellte.

      ›Was ist, wenn er Recht hat?« Gegen den Gedanken anzukämpfen fühlte sich mittlerweile sinnlos an. ›Was ist, wenn wir alle Menschen sind und es vergessen haben? Was bleibt dann noch von mir?‹

      »Und du weißt wirklich gar nichts?«, fragte Chris nach einer Weile. »Warum ihr Menschen töten sollt und wie ihn das befreien soll und alles.«

      »Wir versuchen, Engel so sehr zu provozieren, dass einer von ihnen auf die Erde geht. Wenn dieser Engel dann von uns getötet wird, befreit das Luzifer.«

      »So weit bin ich auch gekommen«, murmelte Chris. Vielleicht hatte er dabei versagt und Luzifer deswegen gegen sich aufgebracht. Einen größeren Verrat konnte sich Dorian definitiv nicht vorstellen.

      Sie schwiegen wieder. Chris griff nach dem Apfel neben sich, wischte ihn mehrfach mit dem Ärmel ab, biss schließlich hinein und kaute mit nachdenklicher Miene. Er aß auf, warf den Rest aus einem Loch in der Wand und lehnte sich zurück. Wieder berührte er den Anhänger um seinen Hals, und wieder wurde Dorians Blick davon angezogen, aber er riss sich los, um nicht zu starren.

      »Willst du mehr?«, fragte er stattdessen.

      Chris schaute auf. »Wovon?«

      Dorian holte das restliche Essen aus seinen Taschen. »Du kannst alles haben, wenn du willst.«

      »Wo hast du das überhaupt her?«

      Auf die Schnelle fiel Dorian keine Lüge ein. »Ich bin in das nächste leer stehende Haus eingebrochen.«

      »Also ist niemand zu Schaden gekommen oder so?«

      Er nickte.

      »Okay«, murmelte Chris und nahm das Essen entgegen. »Du sagtest, Adrian würde wiederkommen.«

      »Die Niederlage lässt er nicht auf sich sitzen«, antwortete Dorian. »Er trägt einem auch schon weniger nach.«

      »Und jetzt ist er hinter uns beiden her.«

      »Hinter dir. Ich stehe ihm nur im Weg.«

      »Warum bist du dann noch hier? Entweder, nimmst du mich selbst wieder mit in die Hölle, oder du überlässt mich Adrian.«

      »Soll ich gehen?«

      Insgeheim wünschte sich Dorian, dass ihm Chris die Entscheidung einfach abnahm. Stattdessen bekam er ein Schulterzucken und ein »Ich kann dir schlecht vorschreiben, was du machen sollst«.

      ›Aber wer sagt es mir dann?‹ Noch eine Erkenntnis, die an sich schon eine Sinnkrise nach sich gezogen hätte. Gerade aber ging sie zwischen all den anderen erschütterten Grundfesten beinahe unter. ›Habe ich jemals etwas selbstständig entschieden?‹

      Dorian stand auf und danach unschlüssig im Raum herum. Schließlich fasste er sich ein Herz, ging zu Chris herüber und setzte sich neben ihn. Der sah sichtlich irritiert aus, ließ ihn aber gewähren. »Heißt das, du bleibst?«

      »Ich… denke schon.«

      Chris wickelte sich aus der Decke und reichte Dorian ein Stück. »Hier. Bevor es zu kalt wird.«

      ›Warum machst du das?‹ Ihm wäre es immer noch lieber, würden sie sich gegenseitig einfach umbringen wollen.

      In einer einfacheren Welt könnte er längst zurück in der Hölle sein und seine Schuld bereinigen. So aber deckte er sich zu, schloss