Magdalenas Mosaik. Gabriele Engelbert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Engelbert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769664
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ausgelassen. Sicher gab es von ihr gerade nichts Bemerkenswertes zu berichten. Vergessen hatte Papa sie bestimmt nicht. Fritz war 16 Jahre, die beiden großen Schwestern Martha und Lotte 18 und 19 Jahre alt. Ernst, der Älteste, zählte sogar bereits 22 Jahre. Schon damals malte er in jeder freien Minute, wenn er nicht gerade wie ein Weltmeister turnte, ritt oder schwamm. Ernst konnte anscheinend alles. Er hatte in Stettin eine Kaufmannslehre absolviert und war Angestellter einer Hamburger Kaufmannsfirma, hatte aber zwischendurch auch Kriegsdienste geleistet. Lotte, ebenso bewundernswert, hatte 1888, 14jährig, schon die Schule beendet, war ein Jahr lang zu Hause geblieben, hatte gerade die Geburt ihrer jüngsten Schwester miterlebt und war dann vier Jahre lang als Haushaltshilfe mit einer russischen Familie nach Bialystok gegangen. Nach dem Brief zu urteilen, war sie 1893 wieder zu Hause.

      Die Geschwister waren immer groß gewesen. Fast oder dann ganz erwachsen, fand sie früher aus ihrer niedrigen Kinderperspektive heraus. Sie selbst war leider die Kleinste und leider ein Mädchen. Mädchen mussten Kleider tragen, sie durften sich weniger schmutzig machen und weniger herumtoben als Jungen. Mädchen waren kaum irgendwelche Abenteuer und spannende Erlebnisse vergönnt. Jungen dagegen konnten sich ohne große, nachwirkende Probleme gern mal ihre Hosen zerreißen, sie durften sich prügeln, schnell rennen, und sie mussten sich auch nicht ständig dieses „das schickt sich nicht“ anhören. Sie selbst hatte immer versucht dieses ganze Mädchen-Getue möglichst zu überhören und zu übergehen. Die großen Schwestern waren natürlich vorbildliche Mädchen. Sie selbst hatte aber schnell entdeckt, dass sie als Jüngste doch einige Vorteile hatte und oft versucht, diesen Bonus heraus zu kitzeln. Die Großen fanden sie „niedlich“, verwöhnten sie oft. Und beim Vater fand sie immer ein offenes Ohr für ihre Fragen, Anliegen und Extrawünsche. Als Kleinste Papas Liebling zu sein, das war nicht schwierig.

      Als sie geboren wurde, war ihr Vater immerhin schon 45 Jahre alt. Einen lieberen Vater konnte sie sich gar nicht vorstellen. Und eine liebere Mutter, bei Lenchens Geburt schon 38 Jahre alt, ebenso wenig.

      Kinder und Kindereien

      Wenn sie eines unwahrscheinlichen Tages einmal einen Sohn haben sollte, dann würde er so sein wie ihr Vater. So hatte Lene früher gedacht. Jungen waren wie ihre Großväter oder Väter, oder nicht? Und Mädchen wie ihre Großmütter oder Mütter? Wie naiv war sie früher gewesen, so etwas zu denken. Ihr eigener Sohn Georg war auf jeden Fall anders. Liebenswert, romantisch, humorvoll, betörend charmant oft. Eigensinnig, - aber nur tief in seinem Innern, selten nach außen hin. Unglaublich gut aussehend. Besser als sein eigener Vater? Ach nein, völlig anders war Georgs Gesichtsausdruck, vor allem weniger streng, weniger ernst, stattdessen hatte er etwas spielerisch Kreatives. Aber das konnte sie nicht ganz vergleichen: Georg war jetzt, 1952, erst 32 Jahre alt, seinen Vater hatte sie in jenem Alter nur von wenigen Fotos gekannt. Frauen hatten Georgs Vater nicht besonders herausgefordert. Er nahm sie eben hin, hatte genug andere Probleme. Und an seine eigene Mutter konnte sowieso keine herankommen. Georg dagegen konnte im Nu jeden und jede um den Finger wickeln. Besonders jede, jawohl. Nein, halt,- sie musste lächeln -, mit seiner Frau Lilo, Lenes Schwiegertochter, war es von Anfang an etwas anderes gewesen. Das musste auf jeden vom ersten Moment an ganz und gar ernst und von innen heraus gewesen sein. Da zählten die selbstverliebten, eher eitlen Liebeleien, Spielereien vorher nicht mehr. Das hatte Lene gleich gemerkt, als er ihr zuerst von Lilo erzählt hatte. Ja, auch Georg hatte ein Außen und ein Innen. Lenes Tochter Hanna übrigens ebenso. Was Georg betraf, so gehörten das Rechnen, das Verkaufen, Kaufen und Kalkulieren zu seinen Außenseiten. Zartheit, Romantik, ab und zu sein überraschend lautes Lachen, sein neugieriger, liebevoller Humor bei Kleinigkeiten, manchmal mit spöttischer Ironie, das machte seine Innenseiten aus. Hanna hatte auch oft diese Ironie im Lachen und in Worten. Dazu die Lebenskunst, alles in Ruhe anzugehen. Und Geschicklichkeit hatte sie. Vielleicht ähnlich wie ihre Großmutter Martha, also Lenes Mutter. Oder wie Hannas Onkel väterlicherseits, der Uhrmacher gewesen war.

      Georg und Hanna standen mit ihren jugendlichen Beinen fest auf der Erde. Diese Erde war ja wacklig genug gewesen noch vor wenigen Jahren und jetzt vielleicht immer noch. Da waren guter Halt und Stehvermögen angebracht und wahrscheinlich eine notwendige Basis. Dazu gab es seit einigen Jahren Lilo in der Familie, die Künstlerin mit ihrer fraglos singenden Sicherheit über die Alltagsdinge hinaus und mit ihrem trotzigen Mut. Inzwischen hatte Lene Lilos Elternhaus kennen- und Lilo selbst längst schätzen gelernt. Lilo waren als Jüngste vielleicht ein paar Freiheiten mehr gelungen als ihren zwei viel älteren Schwestern? So dachte Lene, die ja als Jüngste ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Vielleicht hatte diese Position Lilo geholfen weg zu schlüpfen aus der elterlichen, liebevoll-strengen Fürsorge, hinein in ihr Künstlertum - und obendrein in die Liebe. Das beides bestimmte ihr Leben, das ein „Singen“ werden sollte und wurde, wie sie selbst einmal geäußert hatte. Ein singend romantisches Vertrauen ohne pessimistische Hindernisse der Wirklichkeit strahlte Lilo aus. Und das tat Georg nur gut.

      Mit den Dreien hatte sie wirklich ein großes, mütterliches Glück. Und dazu war Hanna dann auch mit einem Verlobten angekommen, der inzwischen ihr richtiger Ehemann und fest in der Familie verankert war. Das war Gerd, der ernsthafte Junge vom Ruderclub an der Alster. Die beiden hatten sich beim Rudern und Feiern dort kennen und schätzen gelernt. Aber dieser Gerd konnte weit mehr als Rudern, auch er hatte sein kritisches Außen- und reichhaltiges Innenleben. Mit Lilo konnte Lene Gedichte lesen, ihrer Musik zuhören und für Komponisten schwärmen, mit Gerd konnte man über Kant diskutieren und über Theologie. Besonders den Theologen Thielicke schätzte er. Auch mit dänischen Philosophen hatte Gerd sich beschäftigt. “Zur Abwechslung“, wie er bescheiden äußerte.

      Ein Jammer wirklich, dass ihre eigene Mutter weder Lilo, noch Gerd kennengelernt hatte. Mama nicht und Papa nicht und die väterliche Großmutter Wilhelmine, genannt Hermine, auch nicht.

      Wieder liefen Lenes Gedanken in die Vergangenheit. Manchmal begegneten sich Lebende und Gestorbene in ihrem Kopf. In der Tat, da hatten sich viele Menschen versammelt. Und sie selbst war irgendwie immer mittendrin.

      Georg und Hanna, wie schnell waren sie groß geworden. Schneller als sie selbst jedenfalls, oder nicht? Bei ihr selbst hatte das lange gedauert, so ihre Erinnerung. Früher, als sie selbst jung gewesen war, als sie zum ersten Mal ihre eigenen Lebensfäden entwickelt und ineinander gesponnen hatte, zum ersten Mal ihre kleine Welt entdeckt und erobert hatte…, ja, das waren scheinbar endlos lange Tage, Wochen und Jahre gewesen.

      Manchmal war es ihr, als sei das noch gar nicht so lange her. Damals in Osterode…

      Sie, das kleine Lenchen, besuchte also ab Ostern 1895 die städtische höhere Mädchenschule. Sie begann dort mit der siebten Klasse. Das System der Klassenreihenfolgen war damals noch anders als heutzutage. Die höhere Mädchenschule war in sieben Klassen eingeteilt. Diese durchlief jede Schülerin aber nicht in sieben, sondern in zehn Jahren. Die unterste Klasse war die Klasse 7, die höchste die Klasse 1. Die ersten zwei Schuljahre war man in der Klasse sieben, erst in der 7 B, dann in der 7 A. Lenchen wurde dann Ostern 1897 in die Klasse 6 versetzt, Ostern 1898 in die fünfte Klasse, diese dauerte drei Jahre. Ostern 1901 kam sie in die vierte Klasse, Ostern 1902 in die dritte und Ostern 1903 in die zweite Klasse. Ostern 1904 begann sie die erste und höchste Klasse.

      Mit Feuereifer stürzte sie sich zu Beginn, 1895, ins Reich der Buchstaben. Ach ja, und es gab sogar noch mehr, was sie lernen sollte: Religion, Rechnen, Zeichnen, Singen und Turnen. Kein Problem, sie hatte sich das Lernen komplizierter vorgestellt. Wenn das weiter nichts war, meine Güte. Aufpassen sollte man, Ordnung halten, sich gut betragen, sich zusammennehmen. Kinder waren klein und unwichtig und hatten zu gehorchen. Das war zu Hause sowieso üblich und selbstverständlich, also nichts Neues für Lenchen. Genug Zeit zum Spielen blieb ihr jeden Tag, und das war eigentlich viel wichtiger und spannender, fand sie nach den ersten Schulwochen. Aber sie tat Vater und Mutter den Gefallen, erledigte das, was verlangt wurde, und ging ansonsten ihre eigenen Wege. Kletterte mit Freundinnen und Freunden auf Bäume, ärgerte Nachbars Kläffköter, wenn niemand in der Nähe war, stritt und lachte mit ihren Spielkameraden, schlich sich indianermäßig an, wenn die großen Schwestern ihre Albernheiten wegen der hochgelobten, heiß ersehnten Liebe stundenlang beschwatzten und belauschte irgendwelche Seufzer, schmachtendes Geflüster und erste Küsse in der überwachsenen Flieder-Laube hinten