Dein Vater
E.L.W.
Die Schule hatte in diesen Jahren insgesamt um die 200 Schülerinnen, jede Klasse bestand also aus etwa 20 Mädchen, nach der Jahrhundertwende in manchen Jahrgängen aus bis zu 30 Schülerinnen. Jedes Schuljahr gab es zunächst vier Zeugnisse, jeweils von Ostern bis zu den Sommerferien, beziehungsweise bis Johanni, vom Sommer bis Michaelis, von Michaelis bis Weihnachten und von Neujahr bis Ostern. Erst ab 1900 gab es dann drei Zeugnisse: von Ostern bis Michaelis, von Michaelis bis Weihnachten und von Neujahr bis Ostern. Unterschrieben haben neben den Klassenlehrern die Rektoren Lauer bis 1900, Schmidt bis 1902 und Cartellieri anschließend.
Bis Ostern 1902 ist in jedem Zeugnis der Klassenplatz gemäß dem Leistungsvergleich angegeben. Das war die im Zeugnis festgehaltene „Rangordnung“. So waren jeweils die Klassenbesten und Klassenschlechtesten auf den ersten Blick sichtbar. Lenchen saß in den ersten Jahren auf dem dritten oder zweiten Platz, dann auch mal auf dem sechsten oder sogar neunten. Sie strengte sich nicht immer an, das war mal sicher. Erst in den letzten Schuljahren behauptete sie den ersten Platz. An ihren Zeugnis-Zensuren hatten die Eltern fast nichts auszusetzen. Nur im Schönschreiben kam sie oft mit einem „genügend“ nach Hause, das Fach war ihr zu langweilig. Schreiben musste sie immer viel und schnell. Wie das Geschriebene dann aussah, war doch vollkommen unwichtig, fand sie. Außer ihr selbst und den Lehrern musste auch niemand lesen, was sie schrieb, oder? Naja, Briefe an die lieben Schwestern und an Verwandte natürlich, da gab sie sich manchmal Mühe. Aber der Inhalt war immer die Hauptsache. Und den hatte sie im Kopf und krakelte dann fix drauflos. …
Ernst riss Lene, – in der Haynstraße -, aus Gedanken. „Hast du nicht was Leckeres für heute Abend, Lenchen?“
Männer, warum dachten die immer ans Essen? Obwohl sie selbst, naja, da war sie nicht viel anders, oder? Essen, das war unbedingt eine ihrer eigenen Stärken – oder ein Schwachpunkt natürlich. Amüsiert drehte sie sich zu ihm um. „Käsestangen sind noch in der Vorratsdose, glaub‘ ich.“
„Oder Nüsse?“ fiel es Ernst ein, „Tyart brachte neulich doch welche mit.“
Lene legte die alten Briefe, Papier und Stift beiseite. Klappte das darunter aufgeschlagene Buch zu: Herder-Gedichte. Die liebte sie. Daneben lag ein Drama von Sudermann. Der war ein ungeheuer beeindruckender Zeitgenosse gewesen. Nein, wie dieser Mann schreiben, wie er die Leser und Theaterbesucher mitreißen konnte. Leider war er seit 25 Jahren nicht mehr am Leben. Den hätte sie gern mal kennengelernt, das hatte sich aber nicht ergeben.
Sie musste also jetzt in die Küche. Aber erst zog sie die unterste Schublade des alten Schreibtischs auf. Vaters Schreibtisch, Vaters Ordnung. Sie hatte das im Kopf, brauchte nicht zu suchen. Und hielt es schon in den Händen, das, was ihr eingefallen war. Die Chronik? Nein, eher die Erinnerungen waren wieder mal über sie hergefallen. Nachher also.
Schade, dass Mutter nichts geschrieben hatte.
Mama, die gute, natürlich hatte sie Papa immer den Vorrang gelassen. In jeder Beziehung. Männer waren nun mal wichtiger als Frauen, - ja, warum eigentlich? Hatte noch nie eine der vielen Frauen damals drüber nachgedacht? Doch, bestimmt, aber wahrscheinlich war es bei Gedanken geblieben und das Handeln ausgeblieben oder untergegangen. Vater war Lehrer, Rektor, Mutter war nur das Anhängsel, die „Frau Rektor“. Er schrieb die Briefe, sie bekritzelte in ihrer dünnen, steilen Schrift die Ränder und Ecken des Briefpapiers, die er frei gelassen hatte. Er arbeitete am Schreibtisch und in der Schule, sie am Herd, im Haus, am Waschzuber, am Nähtisch. Er hatte seine Schüler, sie ihre wenigen Mägde. Er verdiente Geld, sie das, was er für sie und den großen Haushalt ausgerechnet hatte. Eine Arbeitsteilung war notwendig und sicherlich sinnvoll. Aber war sie so richtig? Konnte es nicht auch umgekehrt sein? Oder ausgeglichener?
Fast musste sie über diese Gedanken lachen, so ungewohnt waren sie früher tatsächlich gewesen. Inzwischen gab es zum Glück allmählich andere Bestrebungen. Tüchtige Frauen, die sich sehr wohl die Köpfe zerbrachen und darüber redeten und schrieben, wie die Männer-Dominanz zu ändern, die alten Strukturen aufzubrechen seien und warum.
Lene reckte den Rücken gerade. Mutter hätte höchst erstaunt geguckt, wenn man früher von sowas angefangen hätte. Nein, hätte sie gesagt und nachdenklich den Kopf geschüttelt, nein, alles musste seine Ordnung haben und behalten. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir plötzlich alle guten Sitten und Regeln über den Haufen werfen? Aber genau diese Fragen hatten Lenes eigenes Leben von Anfang an bestimmt. Hatten sie bewegt, um- und angetrieben. Wollte sie nicht früher viel lieber ein Junge sein? Wollte sie etwa so sein wie alle anderen Mädchen? Naja, vielleicht nicht alle, aber die meisten, die sie kannte? Die sich anpassten an gängige Vorstellungen und nie auf die Idee kamen, ob das richtig war, ob das für sie überhaupt passte? Nicht nachzudenken, das machte vieles leichter, zweifellos. Für jede? Nicht für Magdalena Wüst.
Auf keinen Fall. Sie liebte ihre Schwestern, oh, sie verehrte und bewunderte sie alle. Für ihre Tüchtigkeit, ihre Fantasie, ihre geistige Regsamkeit und Klugheit, ihre Heiterkeit. Eine jede hatte ihre eigene, liebenswerte Art. Aber so werden wie eine von ihnen, das wollte Lene nicht. Sie sah das alles mit an, was ihre Schwestern machten. Was mit ihnen gemacht wurde. Sah ihre Gesichter vor den Türen – und hinter den Türen der Gesellschaft des offenen Hauses. Sie ahnte manches, verstand kaum etwas, jedenfalls früher nicht. Die anderen waren schon groß, erwachsen. Sie selbst war ein Schulkind, das zum Glück noch viel Zeit für sich selbst hatte. Zeit auf Bäume zu klettern, Zeit, mit Freunden herumzutoben, den ahnungslosen, armen Erwachsenen in ihrer Einfalt Streiche zu spielen, sich hinter Büschen anzuschleichen, albernes Gestammel von Liebe zu belauschen, sich über Schmatzküsse halbtot zu kichern. Nein, niemals würde sie selbst, Lene, so einfältig werden. Niemals sich derart gehenlassen, sich jemandem ausliefern.
Das war doch nicht möglich, dass Jungens von vornherein klüger auf die Welt kamen als Mädchen und alles zu bestimmen hatten. So etwas Ungerechtes konnte sich der liebe Gott doch nicht ausgedacht haben. Wer weiß, was später mal aus ihr selbst werden würde? Sie nahm sich vor, höllisch auf der Hut zu sein vor allem, was etwa irgendeine ungerechte Schlagseite bekommen sollte. Da musste sie aufpassen.
Bis jetzt war die Schule jedenfalls zum Glück ein solches Kinderspiel, dass ihr Zeit genug blieb, die Nase in Vaters Bücher und Zeitungen zu stecken oder auf dem Flügel Etüden zu klimpern, Lieder zu singen oder nachmittags hinter dem Schulgebäude oder in der leeren Turnhalle Ballspiele zu veranstalten, Wettkämpfe mit den Freundinnen und Freunden im Schnelllauf und Weitsprung zu gewinnen. Jawohl, Zeit genug blieb ihr das Leben zu genießen.
Vaters Schule lag im Osten der Stadt. Der stattliche, rote Ziegelbau war sein ganzer Stolz. Das Rektor-Haus daneben wirkte direkt verschüchtert bescheiden. Wer allerdings erstmal durch die Haustür in den Flur eingetreten war, fand es überraschend geräumig, - und laut natürlich.
Zum See hinunter, - über den langen Marktplatz, dann an der alten, ehemaligen Ordensburg vorbei -, war es auch nicht weit. Da glänzte nachmittags die Sonne übers Wasser. Sie selbst und die Freundinnen hatten, als sie etwas älter waren und meinten, die Kindheit läge endlich hinter ihnen, ihre Lieblingsplätze seitwärts zwischen den Erlen- und Haselbüschen am Schilfrand. Geheim natürlich. Endlose Stunden schabberten sie da, Freundinnen unter sich eben. Die meisten hatten Träume, hatten ihr Leben schon in abgesteckten Bahnen vor sich. Wenn die Schule beendet war, würden sie sich hübsch machen, - noch hübscher und ohne Pickel. Ja, sie wussten, was zu tun war. Manchmal klang es fast so, als hätten sie ihr Leben, zumindest gedanklich, schon hinter sich und abgeschlossen. Wo blieb da noch Platz für das Schicksal, für Überraschungen, Begegnungen, Ereignisse?
Nein, Lene sah erstmal keinen Grund, die Schule zu beenden. Keinen Grund, ihre Freiheiten aufzugeben, die sie sich nach und nach auch als Nesthäkchen erobert hatte. Jedenfalls nicht, bevor sie herausgefunden hatte, was das Leben mit ihr vorhatte – oder sie selbst mit ihrem Leben? Und was sie vermochte? Und nichts aufgeben,