Der Schreibtisch
Früher mal, eines Tages, schaffte Lenchen es, über die Schreibtischkante zu gucken. Auf die Zehen hoch gereckt und sich mit den Fingern anklammernd, erfüllte sie sich endlich diesen dringenden Wunsch. Tüchtige kleine Finger. Und Neugier. Na bitte, dieser Blick über die Kante war es, was sie unbedingt wollte. Sie sah Bücher, aufgeschlagene schwarze Hefte, Zettel, routinierte, krakelige Schriftzeichen, eine Schreibfeder, rote Tinte, alles von schräg unten her erspäht. Papas Geheimnisse.
Das fiel ihr jetzt, viel später, zuerst ein. Vaters Schreibtisch.
Der und Vater gehörten zusammen. Der Schreibtisch allein, ohne Vater, war ein hilfloser Anblick, war wie ein Hilfeschrei aus dem Alleinsein. Vater ohne Schreibtisch, naja, das ging noch an, aber wenn er etwa zur Schule hinüber ging oder zu Hause am Mittagstisch saß, wenn er nicht am Schreibtisch saß, dann schien er seinen Schreibtisch doch gewissermaßen im Kopf irgendwie oft mit sich herumzuschleppen. Seltsam war das.
Immer wieder überlegte sie, was es mit diesem Möbelstück wohl auf sich hatte? Manchmal, als sie noch keineswegs über die Schreibtischkante gucken konnte, hatte Vater sie auf seine Knie genommen, wenn er am Schreibtisch saß. „Na, Marjellchen? Kommst mal deinen Papa besuchen?“ Er wies auf das windbewegte Grün der Kastanie vor dem Fenster, auf die sonnenhellen Dächer der Häuser gegenüber. „Siehst du, wie schön ich’s hier habe?“ Der Federhalter lag auf einem aufgeschlagenen Schulheft, rote Tinte über schwarzem Gekritzel. Warum sollte sie aus dem Fenster gucken?
„Geh mal schön spielen, Lenchen“, sagte er, „Ich komm‘ nachher runter zu euch.“ Seine Finger strichen durch ihr dunkles Kraushaar. Gehorsam rutschte sie von seinen Knien.
Als sie dann eines Tages endlich selbst dem Schreibtisch über seine Kante gucken konnte, sah sie wieder nichts als diese Zettel, Federhalter, Schulhefte und Bücher.
Bücher also. Seinen Schreibtisch, seine Bücher und sein Schreibzeug, das war es, was Papa anscheinend nicht nur da liegen hatte, sondern was auch irgendwie wichtig und in seinem Kopf war. Was man nicht gleich sehen konnte wie etwa seine Nase, seine Stirn mit den energischen Falten oder seinen Kragenknopf. Vater am Schreibtisch, da durfte man ihn sehen und besuchen, immer war er liebevoll, aber streng, und man durfte ihn nicht lange stören. Da war er in einer anderen Welt, die in ihm drin war. Von Papas innerer Welt hatte sie keine Ahnung. Aber das störte sie eigentlich nicht. Noch nicht. Gehorsam schloss sie die Tür hinter dem Vater und seiner Schreibtisch-Welt, hangelte sich die Treppe hinunter und lief ins Kinderzimmer zu ihrem Schaukelpferd.
Und Mama? Hatte die auch so eine Innenwelt? Der Gedanke ließ die kleine Lene nicht so schnell los, war wie ein Spiel, wie Rätselraten. Bei ihrer Mutter, nein, da war erstmal alles sichtbar. Ihre schnellen Bewegungen, quirlig routiniert zwischen Essensdüften, Kochtöpfen, Messern, Gemüse, Kartoffeln, Mehl, Teigklumpen, zwischen Hitze, Dampf und schnippelndem, rührendem, knetendem, reibendem, mantschendem Wohlbehagen. Das waren Künste, die jeder sehen und anfassen konnte. Und die Lenchen wahrscheinlich später würde lernen müssen? Künste, die sie mit Bewunderung erfüllten. Oder Mutter abends am Nähtisch in ihrem Sessel mit Nadel und Faden, ihr geneigter Kopf über einem der Löcherstrümpfe, während der Vater, ihr gegenüber, aus der Zeitung vorlas, was ihm lesenswert schien. Oder, - und das war das Kostbarste -, Mutter am Flügel mit flinken Fingern über die Tasten flitzend. Dann legte Vater die Zeitung beiseite und lehnte sich zurück. Ein Lächeln, wie tief aus seinem Inneren auftauchend, huschte über sein Gesicht. Und die Geschwister drüben am langen Esstisch sahen von den Schularbeiten auf, ihre Gespräche verstummten oder wurden mit Vaters energischem „Pssst“ heruntergedimmt.
Mutters innere, unsichtbare Geheimnisse, ja, die gab es, davon war Lenchen allmählich überzeugt. Aber die saßen nicht in Mutters Kopf, sondern in ihren flinken Fingern.
Anscheinend hatte sie, 1952 also, lange mit der Enkelin auf der Chaiselongue gesessen. Ein so besonderes Sofa war gut für Gedanken, für Spurensuche, für Begegnungen alter und junger Zeiten. Gut zum Erzählen, Zuhören, Fragen und Antworten, auch wenn die Enkelin nicht sofort alles verstand.
Und deine Brüder? So hatte das Kind gefragt. Kleine Brüder gehörten zum Leben, anders wusste die Enkelin es nicht.
Davon ein andermal, hatte sie geantwortet, wir haben doch Zeit, wir beide. Die Enkelin war dicht neben ihr gewesen, hatte den rauen Karo-Wollstoff des Großmutterkleides gespürt, den leichten Mottenduft der Pelzweste, den Großmutter-Atem über ihren hellen Rattenschwänzchen. Aber gleichzeitig war diese Großmutter selbst doch weit in die Vergangenheit gerutscht. Außen und innen, das gab es inzwischen auch bei ihr. Eines Tages würde sie der Kleinen, die dann groß genug war, davon erzählen. Eine alte, wieder neue Geschichte. Die Enkelin war nicht ganz so dicht dran wie ihre inzwischen erwachsenen Kinder Georg und Hanna.
Aber jetzt saß sie, die inzwischen Gromo hieß, erstmal wieder an dem alten Schreibtisch in der Fensterecke. Und während sie auf die sehnige Faltenhaut ihrer Hände blickte, die blau hervortretenden Adern, die vielen Leberflecke, wusste sie, dass dieser Schreibtisch jedenfalls einer ihrer Lebensmittelpunkte war. Hier liefen alle Zeitenlinien zusammen. Das Früher, das noch Frühere, das Heute, das Zukünftige sicher auch. Dafür sorgte sie ja täglich, indem sie sich hier ausruhte, hier Altes und Neues sortierte. Ihre Finger strichen behutsam, fast zärtlich, über alte Papiere. Unwillkürlich neigte sie den Kopf darüber.
Woher kam der Gedanke, das Leben als ein wechselnd feines und grobes Gewebe zu betrachten, kompliziert gemustert, an einigen Stellen leuchtend farbig, anderswo verblichen, fast eingerissen, wieder geflickt, neu zusammengefügt und in anderem Muster fortgesetzt, neue Stränge in alte hinein gewebt, verschlungen und verhakt, nie erwartet, überraschend bunt geraten, zum Weiterarbeiten bereitgelegt? Konnte sie jetzt, nach so vielen Jahren anfangen, die Teile zu betrachten, neu zu ordnen, zusammen zu fügen?
Der erste Haltestrang, war das der Schreibtisch ihres Vaters? Nein, der bildete viel eher eine Art Knotenpunkt, eine Schaltstelle in der Mitte. Das davon ausgehende erste Anfangsmuster, das waren natürlich ihr Vater selbst und ihre Mutter. Mama und Papa, ja, wenn sie noch weiter zurückdenken könnte, hatte es auch mit denen irgendwann einmal angefangen. Und davon gab es doch noch Spuren in einer der Schubladen des Schreibtisches. Und in ihrem Kopf natürlich.
Das leise Knarren der Zimmertür. Sie wandte den Kopf.
„Ach, du bist es. Schon Abend? Zeit zum Essen?“
Das gemütliche, rauchige Lachen aus der Kehle heraus. „Aha, sitzt du wieder am Schreibtisch fest?“
Kein wüstes Leben
Ihr Vater hieß Ernst Leberecht Wüst. Dieser Name hatte, wie Papa erzählte, oft zu Scherzen Anlass gegeben, indem es in „Ernst, lebe recht wüst“ gewandelt worden war. Das konnte allerdings von seinem Leben keineswegs behauptet werden, soviel Lene inzwischen wusste. Nein, „wüst“ hatte der Vater höchstens ab und zu in Studentenzeiten gelebt in Jena und Berlin, jedoch nicht anders als andere Studenten seiner Zeit. Davon erzählte er aber nicht, sondern davon berichtete nur die von ihm verfasste Familien-Chronik. Geboren wurde er am 6. Dezember 1844 in Pröbbernau auf der schmalen Nehrung am Frischen Haff. Dort war sein Vater Pfarrer, seine Mutter stand dem großen Haushalt vor. Ernst wuchs unter 10 Geschwistern auf.
Von Lenes Mutter gab es keine von ihr verfasste Chronik. Sie wurde am 13. Juli 1851 als Martha Louise Charlotte Goldnick in der Mühle Slupp geboren. Sowohl ihr Vater, der Mühlenbesitzer, als auch die Mutter waren zweimal verheiratet, Martha hatte eigentlich fünf Geschwister und fünf Halbgeschwister, die aber fast alle sehr früh starben. Die Mühle Slupp in der Nähe des Gutes Orle liegt an der Ossa, einem rechten Nebenfluss der Weichsel östlich von Graudenz.
Wie Ernst und Martha sich kennenlernten und ihr Leben sich dadurch in eine gemeinsame Richtung lenkte, davon schrieb Vater selbst in der Familienchronik, die er