Aber wohin kehrte ich zurück? Was war hier noch von mir übrig? Von meinem anderen Leben? Ich konnte mir nichts vorstellen, und so sehr ich mich bemühte, blieben die Erinnerungen an meine Kindheit, an früher, hier fern und ohne Tiefe. Bilder, die ich kurz im Vorbeigehen betrachtete und deren Bedeutung sich mir verschloss. Nur Claudia blieb deutlich. Und unsere Zeit in Mexiko. Die paar Orte, die ich ihr gezeigt hatte. Einige Hotels und einige Restaurants. Viele Stunden im Auto. Straßen. In dunkelgrüne Vegetation gestanzte Dörfer. Vulkane. Täler und trockene Flussbetten und Felswände, in die sich die Sonne brannte. Und der Himmel, der immer weiter, mächtiger war als alles andere. Der Raum, in dem wir uns bewegten, hatte mich erfüllt. Ich war stolz gewesen, und auch meine Liebe hatte sich ausgedehnt in jede Schlucht, in jeden Stein. Das sah ich plötzlich vor mir: Steine am Wegrand, im Rückspiegel immer kleiner werdend, um schließlich ganz zu verschwinden. Und dann hörte ich auf, daran zu denken, wollte nicht mehr. Versuchte die Vorstellung von Claudia wegzudrängen. Ich riss die Augen auf, die ich wohl vor einer Weile unbewusst geschlossen haben musste und zwang ihr Gesicht in die beleuchtete Instrumententafel, in den länglichen Kopf von Capitán, zwang mich in die Gegenwart, bis das Gesicht verschwand.
Capitán öffnete, schloss den Mund, redete wohl.
„Was?“, fragte ich.
„Mexikaner. Ich habe es dir doch gerade gesagt, Mann, hörst du denn nicht zu?“
„Nein.“
„Also noch einmal. Ich hatte mal einen Co-Piloten, im Krieg, 69, saß hinter mir. Wir flogen so eine Maschine, eine Bronco, nagelneu. Kennst du die? Egal. Tolles Ding, zweimotorig, schnell, konntest unglaubliche Sachen mit ihr machen, Raketen abschießen, mit fast 300 Meilen pro Stunde knapp über die Baumkronen jagen und überall starten und landen. Wahnsinn, ganz anders als diese Mühle hier. So, die Bronco hatte wie gesagt zwei Sitze hintereinander. Und der Mexi saß hinter mir, und ich sagte immer zu ihm, ich müsste schon genug darauf achten, nicht von den verdammten Vietcong abgeschossen zu werden und könnte nicht auch noch einen beschissenen, bewaffneten Greaser hinter mir im Auge behalten. Treviño hieß er. Hat mir einmal das Leben gerettet, als ich eine Kugel einfing und im Cockpit ohnmächtig wurde. Brachte mich auf den Boden zurück. Hatte wirklich Eier, der Kerl.“
„Klar“, sagte ich. Mir ging Capitán mächtig auf die Nerven. Ich wollte sein Geschwätz nicht hören und wandte mich demonstrativ ab.
„Ist ja gut, ich halt ja schon den Mund. Ich muss schon sagen, ihr beide, du und dein wortkarger Kumpane, ihr seid wirklich schlechtgelaunte Vögel.“
„Wie auch immer“, sagte ich.
„Dort sieht man schon Monterrey flackern. Wir verlassen jetzt die Autobahn 40 und drehen nach Süden. Laut euren Positionsangaben müssten wir in ungefähr zwanzig Minuten den Zielort erreichen. Du gehst jetzt nach hinten, siehst zu, dass dein Kumpel sich anschnallt und kommst dann wieder nach vorne, kapiert?“
„Zu Befehl“, sagte ich und zwängte mich aus dem Sitz.
Rodrigo war erstaunlicherweise eingeschlafen. Ich tappte mit zwei Fingern auf seine Schulter. Ohne einen Muskel zu verziehen, wachte er auf. Vielmehr gesagt, wechselte er völlig bewegungslos von einem Zustand in den anderen. Seine schwarzen Augen schauten mich ausdruckslos an, und ich fragte mich, wie schon so oft, wie er mich wahrnahm. Wir kannten uns jetzt vielleicht etwas über ein Jahr. Was war ich für ihn, für seine Frau? Ein Freund? Eine zufällige Bekanntschaft? Nichts? Warum wollte er mich dabei haben?
„Wir sind bald da“, sagte ich.
„Gut“, sagte er.
Ich verschwand wieder ins Cockpit.
Dort spürte ich schon, dass die Maschine langsamer wurde und wir stetig absackten.
„Wir sind jetzt auf 500 Fuß“, sagte Capitán nach einer Weile. „Bald werden wir die Landebahn sehen.“
So sehr ich mich auch anstrengte und in die Nacht hinausstarrte, konnte ich außer einer fahlen Wüstenlandschaft nichts erkennen.
„Vorne links, du Idiot“, sagte Capitán.
Und da sah ich sie: Ein schnell näher kommende Lichtquelle, die sich bald als die Fernlichter mehrerer Autos entpuppte. Capitán schaltete nun seinerseits unsere Landescheinwerfer ein. Unten wurde kurz auf- und abgeblendet. Capitán verringerte die Höhe auf 250 Fuß. Auf beiden Seiten der improvisierten Landepiste flammten jetzt Signallichter auf. Offensichtlich würden wir auf nackter Erde ausrollen müssen.
„Ich drehe jetzt eine Platzrunde. Vergewissere mich, ob wir genügend Landestrecke haben und ob sonst alles in Ordnung ist“, sagte Capitán, drückte die Maschine noch weiter herunter und raste die Piste entlang. Dabei zählte er laut bis fünfzehn und zog nach dem letzten Signalfeuer hoch.
„Reicht höchstwahrscheinlich. Nach meiner Schätzung haben wir ungefähr tausendfünfhundert Meter.“
„OK“, sagte ich.
Nun flogen wir in einer weiten Linkskurve noch einmal über das Areal. Ich bemerkte Bewegung unten. Man hatte zwei Pick-Ups schräg positioniert, so dass sie jetzt den Anfang der Rollpiste mit ihren Scheinwerfern ausleuchteten.
Capitán bediente die Seitenruderpedale, zog und drehte gleichzeitig am Steuergriff und hantierte an den Schalterarmaturen, und ich wunderte mich, dass er dieses Flugzeug überhaupt alleine fliegen konnte. Einfach schien das jedenfalls nicht. War er während des bisherigen Fluges sparsam und kontrolliert in seinen Bewegungen gewesen, so wirkte er jetzt etwas hektisch. Ich hingegen kam mir reichlich nutzlos vor.
Dann wurde es wieder ruhig. Ich sah die Landebahn direkt vor uns.
„Ich lasse das Fahrwerk raus. In drei Minuten sind wir unten“, sagte Capitán.
Wir wurden noch langsamer. Ich hatte das Gefühl, in der Luft anzuhalten und hörte den Fahrtwind auf die Landeklappen treffen. Es sah so aus, als wollte Capitán direkt in die Autos krachen, ich spannte unwillkürlich die Nackenmuskeln an, dann setzten wir unsanft auf, prallten ab, bremsten so stark, dass ich in die Sicherheitsgurte gedrückt wurde, und rollten schließlich holpernd bis zum Stillstand.
Rodrigo hatte schnell die Tür hinten geöffnet. Ein kurzer Sprung aus dem Flugzeug, und wir standen da in dieser leeren, schwülen Nacht. In der Luft noch salzige Spuren des nahen Golfes. Wir warteten. Capitán lehnte lässig am Rumpf und zündete sich eine Zigarette an. Wir schwitzten. Zwei Pick-Ups und ein Kleinlaster näherten sich mit großer Geschwindigkeit, stoppten kurz vor uns und hüllten uns in eine Staubwolke. Sechs Männer sprangen von den Ladeflächen. Zwei von ihnen trugen Gewehre. Dann stieg offensichtlich der Boss der Crew aus.
„Ich bin Cuadrón“, stellte er sich vor. „Meine Männer laden jetzt das Zeug aus und kontrollieren die Ware. Wenn alles stimmt, bekommt ihr dann euer Geld.“
Der Kerl sprach langsam. Er sah uns abfällig an. Sein Auftreten, seine ganze arrogante Art gefielen mir nicht.
„Ich will das Geld sehen“, sagte ich gereizt und spürte Rodrigos Hand auf meiner Schulter.
„Alles zu seiner Zeit“, sagte der Kerl. Er wirkte im Licht der Autoscheinwerfer, die ihn von hinten anstrahlten und uns blendeten, größer, als er vermutlich war. Er trug ein weißes langärmeliges Hemd, das ihm über die Hose hing. Ich erkannte sein Gesicht nur undeutlich, mir fiel jedoch der Schnurrbart auf, der sich im Stil mongolischer Kriegerfürsten an den Mundwinkeln nach unten bog. Und überhaupt sah der Kerl asiatisch aus.
„Jetzt oder gar nicht“, sagte