„Arschlöcher“, sagte er jetzt.
Er meinte wohl die Gruppe Chicanos, die neben ihren aufgemotzten Autos auf dem hellerleuchteten und leeren Parkplatz der Mall herumstanden und die förmlich darauf warteten, von der Polizei verscheucht zu werden. Vielleicht hatten sie sich aber auch dort versammelt, um von anderen trüben Geschäften in der Nähe abzulenken.
Ein paar Minuten später bogen wir in die Straße Richtung Flughafen ein. Es ging vorbei an einem kleinen Golfplatz, der um diese Zeit durch Rasensprenger bewässert wurde. Auf einer etwas abseits gelegenen eingezäunten Anlage übten einige Unverbesserliche ihre Abschläge im Flutlicht.
Bald darauf tauchte der Flughafen auf. Er war nicht groß. Ein flaches Terminal mit drei Schaltern, einem Gate, einem separaten Ankunftsbereich und einer Cafeteria. Wir ließen die Gebäude hinter uns und gelangten schließlich zu einer Toreinfahrt mit der Aufschrift: „Fracht — Nur Flughafenpersonal“. In einem kleinen Häuschen saß ein Wachmann. Als er uns bemerkte, kam er heraus, näherte sich vorsichtig und schaltete seine Taschenlampe ein. Sobald er sich vergewissert hatte, dass wir es waren, ging er zurück in sein Kabuff, drückte auf einen Knopf, und das Tor glitt auf.
Wir hatten den Kerl schon bestochen, als wir vor zwei Tagen das Zeug ins Flugzeug luden. Außerdem war er vermutlich mit Rodrigo in andere Geschäfte verwickelt. Aber wer konnte das schon so genau wissen. Er würde den Mund halten, soviel war sicher.
Wir befanden uns auf dem Vorfeld, fuhren an Privatmaschinen unterschiedlicher Größe vorbei zu den Hangars. Aus einem fiel Licht. Wir parkten das Auto in der Nähe und stiegen aus. Die Nacht war feucht und sehr warm. Ganz in der Nähe hörte ich lautes Zikadengeschrei. Dann schwoll es ab. Es roch leicht nach Kerosin und Teer. Mir wurde ein wenig schummrig, und ich stützte mich am Hangar ab. Die Wellblechwand kühlte meine Handfläche und vermittelte mir ein kurzes Gefühl von Wirklichkeit. Ich wusste nicht, ob ich das gut fand.
Rodrigo blieb stehen. „Was ist los? Musst du kotzen, oder was?“
Ich wollte keinesfalls Schwäche zeigen und sagte: „Fick dich.“
Er starrte mich an und ging dann weiter. Ich atmete tief durch. Der Schwindel verflog.
Als wir durch das riesige Schiebetor in den Hangar traten, war ich zunächst geblendet. Drei überdimensionale Scheinwerfer waren auf das Flugzeug gerichtet.
Ich blinzelte, gewöhnte mich an die Helligkeit. Da stand sie. Die alte DC3. Man hatte ihr vor Jahren einen schmutzig-braunen Anstrich verpasst und damit nur notdürftig die militärischen Tarnfarben überlackiert. Ich wollte gar nicht wissen, im welchem Krieg sie bereits geflogen war, vielleicht hatte sie ja auch als Rosinenbomber bei der Berliner Luftbrücke ihren Dienst geleistet.
Die Tür hinter dem Flügel stand offen. Davor, auf einem kleinen Metalltreppchen, hockte der Pilot und rauchte. Mein erster Eindruck bestätigte sich: Er sah irgendwie verwahrlost aus. Aber er war uns wärmstens empfohlen worden.
Ein paar Wochen zuvor hatten wir Kontakt aufgenommen. Das war nicht einfach gewesen. Nach zahllosen Telefonaten wurde ein Treffen mit einer Frau, die sich selbst „La Marinera“ nannte, vereinbart.
Das mexikanische Viertel von McAllen lag im Südosten der Stadt. Nur die auf Englisch durchnummerierten Straßenschilder gaben einem das Gefühl, noch in den USA zu sein. Ansonsten sah es genauso aus wie südlich der Grenze. Flache, höchstens zweistöckige Gebäude, vergitterte Fenster, bunt angemalte Häuserwände, Graffiti auf fast jeder verfügbaren Fläche. Unzählige kleine und kleinste Läden, in denen Kleidung, Spielzeug oder Haushaltswaren auslagen. Dazu Reparaturwerkstätten und Frisiersalons mit ihren charakteristischen blauweißen Figaro-Emblemen, Tortillerias, Bäckereien und eine nach vorne offene Metzgerei. Fettig glänzende Würste und Fleischteile, die aussahen wie abgerissene, blutige Gliedmaßen, hingen an Haken. Am Straßenrand Hot-Dog-Wägelchen und Eisverkäufer. Auffallend war noch, dass tatsächlich Menschen zu Fuß unterwegs waren, Kinder hin und her rannten, man hörte sie kreischen, lachen, hörte Gesprächsfetzen, Hundekläffen und Musik. Die stille Welt der Anglos am anderen Ende der Stadt war weit, weit entfernt.
An einer Ecke stand im Schatten einer Markise, so wie es uns gesagt worden war, La Marinera und verkaufte Lose. Wir fuhren langsam mit dem Auto heran. Sie war sehr alt. Ihr weiß-gelbliches Haar war zu zwei Zöpfen geflochten. Sie baumelten auf ihrer eingefallen Brust und einer ausgeblichenen rosa Rüschenbluse.
„Hey“, rief Rodrigo und hupte.
Die Alte schaute zwar in unsere Richtung, blieb aber stumm. Auf einem kleinen Holztisch lagen ausgebreitet ihre Lose.
„Hey“, rief Rodrigo noch einmal.
Die Alte hielt ein Los hoch und sagte: „La Suerte.“
„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich Rodrigo.
„Nur die Marinera weiß, wo der Pilot ist, sagt mein Cousin.“
„Wieso?“
„Ich habe es dir schon vorhin gesagt. Es ist so“, sagte Rodrigo.
„La Suerte“, kam es diesmal etwas lauter von der Alten. „In einer halben Stunde“, sagte sie gleich darauf.
Ich fand das Ganze langsam lächerlich. Ich war müde, und die Straßenszene rollte zweidimensional vor mir ab. Der bläuliche Schatten der Markise auf dem Pflaster wie ein weicher Sumpf in der Sonnenfläche. Die Alte eine verschwommene Erscheinung weit außerhalb des heißen Autos. Den Grund unseres Hierseins war für mich plötzlich nicht mehr nachvollziehbar. Ich ekelte mich. Aber jetzt schnell woanders hin zu wollen, machte auch keinen Sinn. Meine Schläfen pochten. Mein Herz schlug. Ich atmete. Ich könnte die Luft anhalten. Einfach aufhören.
Ich spürte, dass Rodrigo anfuhr.
„Was ist los“, bemühte ich mich zu sagen.
„Ich glaube, es gibt hier eine Taqueria in der Nähe, die La Suerte heißt.“
„Ein Glück“, sagte ich.
Er saß am Tresen. Wir wussten, dass er unser Mann war, weil sich sonst keine anderen Gäste dort aufhielten. Wir nahmen auf den Barhockern neben ihm Platz. Die Bedienung wischte mit einem feuchten Lappen vor uns herum. Bevor wir etwas sagen konnten, bestellte er für uns geeistes Tamarindenwasser. Nun gut, dachte ich.
Der Mann drehte sich mitsamt Barhocker um 180 Grad und hob sein Glas. Wir tranken. Ich glaube, Rodrigo war genauso erstaunt wie ich. Wir sahen uns mit einer ausgemergelten Gestalt konfrontiert, deren Alter schwer einzuschätzen war. Der Kopf war auffallend klein, das Gesicht von unzähligen Falten durchfurcht und irgendwie länglich. Mit den großen Ohren und den buschigen Augenbrauen erinnerte es mich entfernt an Bert aus der Sesamstraße, aber mit blondem Haardeckel. Gekleidet war er in eine Militärjacke, die an seinen Schultern hing wie an einem Kleiderbügel. Seine Füße steckten in riesigen Kampfstiefeln, in die auch seine Khakis mündeten. Er leerte sein Glas, stellte es mit einer unendlich langsamen Bewegung hinter sich auf den Tresen und sagte:
„Ich bin Capitán.“
Bis auf vier oder fünf kümmerliche Exemplare waren ihm die Zähne ausgefallen. Er schnalzte mit der Zunge: „Ihr braucht einen Piloten, richtig?“
Rodrigo nickte.
Dann nickte ich auch.
Er muss uns damals wirklich überzeugt haben. Wir vertrauten ihm schließlich unser Leben an. Capitán. Ein Mann, der etliche Schlachten und Katastrophen überlebt hatte. Er wirkte mit seiner sehr ruhigen und klaren Art unverwundbar.
Er starb wenige Monate nach unserem Flug, als er in Mexiko in einen Hinterhalt geriet, an einer Schussverletzung.
Nach all den Jahrzehnten sehe ich ihn deutlich vor mir in jener Nacht in dem Flughangar in McAllen.