„Manchmal muss man ein kleines Unrecht tun, um viel Gutes zu bewirken, Commissario.“
Rossi´s Blick, der seine Überlegenheit verloren hatte, wanderte konzentriert die Wand des Büros entlang, dort wo die eingerahmten Errungenschaften der Kommissarin hingen. Abschluss mit Auszeichnung an der Rechtsfakultät der Universität Bologna, Polizeiakademie, Ernennung zur Kommissarin, das alles in weniger als zehn Jahren. Dann musterte er sie genau und nickte.
„Ich habe einen Fehler gemacht“, murmelte er.
„Allerdings.“
„Heute Morgen sprachen Sie mit einem gewissen La Menta und fuhren dann zur Redaktion richtig?“ Er fasste sich an die Stirn und zog dabei die dichten Augenbrauen zusammen.
„Ich dachte immer, Ihre Arroganz käme daher, dass ihr aus dem Norden auf uns herabschaut als seien wir ignorante, rückständige, abergläubische Bauern. Aber jetzt erst verstehe ich.“ Er seufzte, als bereue er bereits das gleich Gesagte. „Im Zuge einer Neuorientierung hat man den alten Russo in Pension geschickt und mit diesem bildhübschen enfant prodige ersetzt. Ich hätte es wissen müssen, eine Gesegnete!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Eine Gesegnete?“
„Ja eine Gesegnete. Das sind Personen mit geringer Erfahrung die auf wundersame Weise in eine Position gehievt werden, weil Sie einen Heiligen haben – einen einflussreichen Gönner – der sie dorthin bringt und beschützt im Gegenzug für Gefälligkeiten“
Caterina Calanca spürte den Caffé aufsteigen, bereits das dritte Mal an diesem Tag, und griff zum Höher.
Sie bat die freudig erregte Cinzia, den Colonello hinauszubegleiten.
„Übrigens, Commissario“, sagte Rossi, beim Verlassen des Büros.
„Was?“
„Entzückendes Kleid, was Sie da anhaben. Neu?“
„Sagt das auch Ihr scharfer Beobachtungssinn?“
Er kam einige Schritte näher, beugte sich vor und flüsterte: „Das verrät allein das Preisschild, das noch am Verschluss baumelt. Cinzia unterdrückte ein Kichern. Caterinas transparente Haut errötete schlagartig. Sobald die beiden in der Tür verschwanden, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
Nach wenigen Augenblicken der Schmach klärten sich die Gedanken: Es war an der Zeit, das Notizbuch der Bellacqua genauer unter die Lupe zu nehmen. Darin könnte der Schlüssel zu dem Rätsel liegen.
3. Wilder Wind
Durch die offene Balkontür in Caterinas Wohnzimmer strömte milde Luft, die nach zartem Jasmin roch. Eine Eule rief heulend in die Nacht. Auf ihrem Sofa vor dem kalten Kamin lang ausgestreckt, das schwarze Notizbuch in der einen, ein Glas Zitronenlimonade in der anderen Hand, machte sich Caterina an die abendliche Lektüre.
Sonntag, 3 Uhr am Morgen
Wieder eine schlaflose Nacht. Seit Wochen schlafe ich nicht. Im Schatten der stummen Nacht kann ich am besten zu dir sprechen. Wahrhaftig, ich habe gar keine Lust diese Notizen zu machen , glitte der Stift nicht wie von alleine über seine Seiten.
Zwei Monate waren seit dem Abendessen bei Stella vergangen. Nichts wirklich Erwähnenswertes war seitdem passiert. Die Tage verstriechen hier langsam, ohne eine Ordnung, ohne ein Ergebnis.
Ich versuchte mich einzuleben, dem trägen Rhythmus des lokalen Lebens anzupassen, traf Menschen, trank Caffé, knüpfte Kontakte. Und noch mehr Aperitivi, Dinner, Feste, etc.
Ich gewöhnte mich schnell an diese Lebensart, auch wenn es mir wie Zeitverschwendung vorkam. Das süße Nichtstun maskiert als frenetisches Dasein. Ich verschickte Lebensläufe, sprach in allen Redaktionen vor, vergeblich.
Nur in der Nacht, da strömen die tiefsten Gedanken in meinem Kopf und ich habe einen meiner wenigen klaren Momente. Die ersten Zweifel kommen auf: War es richtig, alles in Dänemark aufzugeben und nach Italien zurückzukehren? Meinen sicheren Job als Assistentin bei einem großen Verlag kündigen und mich dafür als freiberufliche Journalistin in einem von Instabilität gezeichneten Land zu behaupten? Ich fühle mich konfus und verloren. War dies wirklich der geeignete Ort, um wieder von vorne anzufangen? Ich wünschte jemand würde mir helfen. Ein Schutzengel, der mir den Weg weist.
Um diese Gedanken zu verdrängen, gehe ich abends oft aus, feiere ausgelassen auf Partys in der wunderschönen Villa von Stellas Vater, dem Thunfischfabrikanten. Die Feste sind berühmt in der Stadt, die ausschweifendsten, gigantischsten und schillerndsten Feste Italiens, nein, der ganzen Welt! Alle strömen sie dorthin, Künstler, Adlige und solche die sich zur High Society zählen, die goldene Jugend der Region versammelt sich hier, angezogen von der erregenden Atmosphäre einer großzügigen Exklusivität.
Oft komme ich nach Hause, wenn mein Vater bereits zur Arbeit aufbricht, einer unwürdigen Arbeit, zu der er nach dem Konkurs unserer Firma gezwungen ist.
Verhält sich so ein braves Mädchen?
Ein unermüdlicher Südostwind rüttelt an meinen Jalousien in dieser milden Novembernacht. Wenn ich mich so in meinem Zimmer umsehe, wird mir klar, wie dumpf und traurig es ist. Die Möbel erinnern an eine Klosterzelle, minimalistisch, essenziell, traurig. Ich gestehe, auf einen besseren Anfang gehofft zu haben, hier in der Stadt der Brunnen, aber hier sitze ich mit leeren Händen. Keine Bewerbungsgespräche, keine Perspektive. Hier gelten andere Regeln, oder besser gar keine.
Leise schleiche ich zum Kühlschrank, um Papá nicht zu wecken, und gieße eisiges Wasser in ein Glas, um meine innere Unruhe zu lindern. Ich lehne mich an das geöffnete Küchenfenster und spüre die Ruhe der Nacht, allein gestört vom wilden, staubigen Wind der friedlos durch die kargen Bäume bläst.
Auch der Wind folgt seinem Weg, den nur er selbst bestimmt und mit einer Kraft, die einem keine andere Wahl lässt, als sich ihm zu beugen. Die Natur folgt ihren eigenen Gesetzen. Aber vielleicht kündigt gerade diese stürmische Nacht den Tag an, an dem sich alles ändert. So schlafe ich ein, als mein Vater bereits zur Arbeit geht.
Etwas Unerwartetes passierte. Aus dem Mondschein griffen Morpheus Arme nach der wehrlosen Caterina, und als sie sich aus der Umarmung des drakonischen Gottes befreien konnte, war es bereits Morgen. Und wieder fielen zahlreiche Heilige vom Himmel.
4. Das Debüt
Es versprach ein ruhiger Nachmittag im Kommissariat zu werden. Die Sonne strahlte in den stahlblauen Himmel hinein. Caterina saß am Schreibtisch in einem schwarzen Hosenanzug und glamouröser Föhnfrisur, die ihr den schmeichelnden Vergleich mit Rita Hayworth eingebracht hatte. Sie war gerade vom Frisör gekommen und arbeitete am Abschlussbericht des Falls Bellacqua. Plötzlich brach Hektik aus. An ihrer geöffneten Tür rannten alarmierte Polizisten vorbei, ein aufgebrachter Tommaso stürzte zu ihr ins Zimmer.
Angelehnt am Türrahmen mit den Autoschlüsseln in der Hand keuchte er: „Commissario, ein Mord in der Nähe des Rathauses.“
Caterina sprang vom Schreibtisch auf, nahm Marke und Dienstwaffe aus der Schublade und lief gemeinsam mit Tommy zum Fuhrpark, wo die Dienstwagen standen. Das Adrenalin war ihr in alle Gliedmaßen geschossen, angesichts des ersten Mordfalls hier in ihrem Revier. Endlich würde sie sich beweisen können.
„Wo ist Ispettore Grillo?“, fragte sie Tommaso am Steuer eines Alpha Romeo.
„Am Tatort, Commissario.“
„Tommaso, hör schon auf mit dem Commissario, wir können uns duzen“, sagte sie in der Aufregung,