Die neun. Zbigniew Georg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zbigniew Georg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754916834
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      „Es geht nicht um Schuld oder Unschuld. Fehler passieren jedem. Wer noch nie einen Fehler begangen hat, der mag seine Stimme hier anklagend erheben“, erwidert der Professor streng. „Aber hinzu kommt noch, dass auch die Alarmanlage versagt hat. Ebenso wie die automatische Abschaltung der gesamten Stromzufuhr für die Anlage.“

      „Das sind zu viele Zufälle auf einmal“, meint Miguel nachdenklich. „Sabotage?“ Professor Zulgor seufzt tief und vernehmlich. „Wir wissen es nicht. Noch nicht.“

      Er muss hier raus! Raus an die frische Luft! Die warmen Strahlen der Sonne tröstend auf seiner Haut spüren! Den Geruch der Lebendigkeit mit dem Wind in jeder Faser seines Körpers aufnehmen! Der aufbereiteten Luft der künstlichen Welt entkommen! Echtes Leben spüren!

      Qori fragt nicht nach einer Erlaubnis. Er eilt an den Wachen vorbei, eine Geste von ihm macht jede Frage nach einem Passierschein unnötig. Sie starren ihm nach, sind des Denkens für einige Momente beraubt. Er erlaubt ihnen keine Frage, kein eigenständiges Handeln. Sie gehorchen ihm.

      Den Befehl als Gedanke kaum in Sichtweite den Wachen am äußeren Tor zugeworfen, öffnen diese es wortlos. Qori drängt sich hinaus. Tief zieht er die salzige Luft in seine ausgehungerten Lungen und klettert gleich neben dem versteckten Eingang den Berg hinauf. So hoch wie nur möglich.

      Auf der Spitze eines kegelartigen Berges findet er eine Lichtung. Er hebt seinen wunden Blick in die hoch stehende Sonne, breitet die Arme aus und empfängt die warmen Strahlen des Lebens. Spürt die Lebendigkeit in jeder Zelle seines Körpers. Wie sich ihre Energie mit

      der seinen verbindet.

      Alles ist eins und alles ist miteinander verbunden. Ohne Sonne kein Leben. Wenn die Sonne stirbt, sterben wir. Doch das Universum wird weiterleben. Es wird unseren Untergang so wenig bemerken wie wir den Verlust eines einzelnen Haares. Wer sind wir, uns so wichtig zu nehmen, dieses kleine Staubkorn im All beherrschen zu wollen? Es formen zu wollen nach unseren Wünschen? Wer sind wir, dass wir uns anmaßen, den Großen Plan zu kennen? Wer werden wir sein, wenn wir getan haben, was wir als den einzig richtigen Weg erachten?

      Wohin wird er uns führen? Ins Licht? Oder in die Finsternis einer noch dunkleren Zukunft? Oder gleich ins Verderben? Wird diese unsere Welt noch existieren oder haben wir sie schon längst ausgelöscht?

      Er fällt auf die Knie, den Blick hoch erhoben, die Arme weit von sich gestreckt. Als würde er ein Urteil erwarten, welches ihm den Tod bringt. Doch so verlockend ihm dies auch erscheinen mag, er weiß, jeder Tod ist letztendlich nur ein neuer Anfang.

      Ein neuer Kampf in einem neuen Körper. Nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Vollkommenheit. Es gibt keine Vollkommenheit in der Natur. Wie können wir nur glauben, es gäbe sie für uns? Wie anmaßend von uns zu glauben, diesem Kreislauf von Werden und Vergehen entkommen zu können! Vollkommenheit ist Stillstand! Stillstand ist Tod! Tod ist ein neuer Anfang! Aber wie neu anfangen, wenn das Leben still steht?

      Niemand sieht die Tränen, die ihm heiß über die Wangen laufen, doch spürt sie jeder, der mit ihm verbunden ist. Seine Trauer erstickt ihre Fröhlichkeit, sie versinken in Schwermut, den sie nicht verstehen. Erdrückt von seinen Gefühlen scheint plötzlich nur noch Traurigkeit in ihnen zu sein. Sie verharren, unfähig etwas zu tun. Unfähig zu verstehen, woher diese Gedanken kommen. Sie weinen mit ihm, ohne es zu wissen.

      Doch Qori fühlt ihre Verbundenheit und die Kraft ihres Mitgefühls. Tief atmet er durch und saugt die ihm geschenkten Energien in sich auf. Fühlt wie die Kraft zu ihm zurückkehrt. Die Kraft durchzustehen, was er begonnen hat. Die Sehnsucht, der Welt eine bessere Ordnung zu verschaffen. Die Liebe zu den Menschen zurückzubringen, von denen er sich distanziert, weil er ihre Unvollkommenheit nicht ertragen kann. Denn sie sind der Spiegel zu seiner eigenen unvollkommenen Seele ...

      

      Letzte Tests vor dem großen Countdown. Sie blicken vom Überwachungsraum aus auf die jetzt laufenden Maschinen. Die Vibrationen durchlaufen das Vulkangestein bis hin zu ihren Zehen, den Körper hinauf und verstärken nur noch die ohnehin herrschende Spannung jedes Einzelnen.

      Das tiefe Summen wie von tausend Hornissenschwärmen durchbricht selbst die dicke Panzerverglasung. Nichts scheint der tosenden Macht dieser Maschine standhalten zu können. Am allerwenigsten ihr Wille, diese Kraft beherrschen zu wollen.

      Qoris Blick geht suchend zu Pria. Sie befindet sich im unteren Teil, in der Desinfektionskammer. Sie können es nicht riskieren, harmlose Krankheitserreger der heutigen Zeit in die Vergangenheit einzuschleusen, mit vermutlich verheerenden Folgen für die Bewohner dieser Zeit. Und damit auch für jeden von ihnen in der Gegenwart.

      Ihre Nervosität überträgt sich auf ihn. Qori kann sie deutlich von den Anderen unterscheiden. Er schließt kurz die Augen, atmet tief durch, schickt ihr einen Schwall Ruhe.

      Pria blickt zu ihm hoch, schenkt ihm ein zärtliches Lächeln, das er zögernd erwidert.

      Sie soll seine Angst nicht spüren. Die Angst, sie zu verlieren. Zuzusehen wie ihr schöner Körper in diesem Ungeheuer von Maschine in seine Einzelteile zerlegt wird. Wie jedes Neutrino mit unvorstellbarer Wucht in eine andere Zeit geschleudert wird und den kaum erträglichen Schmerz des Zusammenflickens spüren.

      Und doch wird er bei ihr sein. In jeder Sekunde. Alles spüren, was sie spürt. Sie mit seiner Kraft schützen und stärken. Niemals würde er sie alleine gehen lassen. Er weiß, wenn das Experiment missglückt und Pria in den Weiten des Raumes und der Zeit vergeht, wird auch ein Teil von ihm für immer sterben.

      Ein wehmütiges Lächeln huscht über sein Gesicht. Er erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung. Hier im Stützpunkt. Sie war grade acht Jahre alt. Trotzig, rotzfrech, steckte sie nicht nur ihre Altersgenossen, sondern auch ihre Lehrer spielend in die Tasche.

      Ihr Wissen, von dem niemand wusste, woher sie es hatte, weckte den Unmut der Wölfe.

      Dem Professor blieb nichts Anderes übrig, als sie aus ihrem bisher gewöhnlichen Leben in die Tiefe des Berges zu entführen. Etwas, das er so nie gewollte hatte. Ihnen allen erschien es zu früh, doch das kleine Mädchen fügte sich erstaunlich gut ein.

      Sie war so neugierig, erinnert sich Qori, sie wollte immer alles genau wissen. Hier gab es so vieles, das sie noch nicht wusste. Hier wurde sie gefordert. Ich forderte sie. Ich mochte sie. Spürte ihren starken Willen und ihr Potenzial. Sie wollte sich mit mir messen, von der ersten Sekunde an. Versuchte immer mich auszustechen, egal wobei. Sie hat mir nie verziehen, dass ich fort ging. Doch diesmal geht sie. Dahin, wohin ich ihr mit all meinen Fähigkeiten nicht folgen kann. Wie stolz sie darauf ist!

      Gleich ist es soweit. Ein letzter Testlauf, bevor der erste Mensch den Schritt in die Vergangenheit wagt. Prias Ausrüstung liegt zwischen den ovalen Ringen, deren Metalllegierung durch die hohe Energiezufuhr in allen Regenbogenfarben schillert. Als würden sie sich verformen, sich selbst unter dem Feld auflösen.

      Dann ist es soweit. Das Summen hat sich zu einem unerträglichen Brummen gesteigert, das in den Zähnen schmerzt. Ein greller Blitz zerreißt die einzelnen Moleküle der Ausrüstung.

      Noch bevor die Augen wieder richtig sehen können, ist der Transport abgeschlossen. Der Platz zwischen den Ringen ist leer.

      Gebanntes Starren aller.

      Qoris Blick sucht Pria. Sie können kaum glauben, was sie gerade getan haben. Sie verstehen es nicht. Sie benutzen eine Kraft, die sie mit ihren Formeln zu erklären versuchen, aber sie verstehen noch immer nicht das wahre Prinzip dessen. Dabei ist es so einfach ...

      Leichte Euphorie mischt sich unter die nervöse Spannung der Mitarbeiter. Qori versucht sich abzuschotten. Er konzentriert sich ganz auf Pria und erlaubt sich keine anderen Gedanken.

      Neben ihm beobachten die anderen Mitglieder das plötzliche Aufblenden in der nächtlichen, kargen Landschaft einer fremden, vergangenen Zeit. Weit genug von dem Dorf entfernt, um nicht gesehen zu werden. Leiser Jubel ertönt.