Okay. Niedlich ist nicht korrekt. Sie ist keine Figur aus einem Disneyfilm. Ich kann es nicht mehr abstreiten: diese Frau ist heiß. Trotz des Anzugs. Ein bisschen mehr auf den Hüften könnte sie allerdings haben. Und sie bleibt eine Zimtzicke. Dazu stehe ich.
Wieder schweigen wir. Diesmal ist die Stille allerdings weniger unangenehm.
Ein Brummen ertönt. Elle hält erschrocken die Hand vor den Bauch. Die verlegene Röte, die ihre Wangen flutet, sieht ... wieder heiß aus. Verdammt!
Amüsiert beiße ich mir auf die Lippen.
„Das Essen kommt gleich. Sie werden sehen, es ist köstlich. Alles Original-Familienrezepte.“ Unvermittelt lächelt sie und lässt mich innerlich nach Luft schnappen. Wow. Diese Frau hat ein außergewöhnliches Gesicht. Unter zart gewölbten Brauen blitzen mich mandelförmige grüne Augen an, die ein wenig zu weit auseinander stehen. Ihre Nase würde ich aristokratisch nennen. Sehr gerade und mit hohem Ansatz. Wegen der zarten Sommersprossen wirkt diese allerdings nicht zu streng. Der herzförmige Mund war mir schon auf der Tour aufgefallen.
„Die Tour war wirklich sehr lehrreich. Sie machen das gut. Ist das Ihr Hobby oder Ihr Beruf?“ Ich entspanne mich. Also gut. Dann eben Smalltalk. Ich will mal nicht so sein. Das von ihr angeschnittene Thema ist vertrautes Terrain.
„Das ist mein Beruf. Wir veranstalten diese Touren mit wissenschaftlichem Hintergrund. So unterscheiden wir uns von den als Touristenattraktion aufgezogenen Fahrten und versuchen so den Besuchern die Achtung vor dem Lebensraum Ozean nahezubringen. Vielleicht sollte ich mich noch einmal anständig vorstellen. Das ist heute etwas untergegangen.“ Ich halte ihr die ölverschmierte Hand hin. „Mein Name ist …“
Weiter komme ich nicht.
„Mama, schau. Ist es nicht wunderwunderschön?“ Das Mädchen steht strahlend vor uns und hat ein hellgrünes Dirndl mit roter Schürze an. Die blonden dicken Haare sind zu zwei Bauernzöpfen geflochten. Vor Aufregung sind ihre Wangen gerötet und die Augen glänzen. Sie hebt den Saum des Dirndls und dreht sich einmal im Kreis, wobei der Tellerrock um sie schwingt. Ich muss zugeben, das Kind sieht wie aus einem Modekatalog für bayerische Tracht aus.
„Valérie, du siehst wunderschön aus!“ Elle hat die Hand ergriffen auf ihr Herz gelegt.
„Christiane hat gesagt, ich sehe wie eine richtige junge Frau aus.“ Sie drückt ihren Brustkorb nach vorn, um den Ausschnitt zu präsentieren, der allerdings außer den Rüschen der Bluse nicht viel zu bieten hat. Mein Schmunzeln darüber erstirbt, als ich den wehmütigen Ausdruck in Elles Augen wahrnehme.
„Ja, wie eine richtige junge Frau. Da hat Christiane recht“, flüstert sie.
„Christiane hat gesagt, das ist das Praktikantendirndl. Was macht eigentlich ein Praktikant genau?“
„Das ist jemand, der praktische Erfahrungen sammelt. Du kannst dich doch an Jenna erinnern, die letztes Jahr bei uns in der Schneiderei war. Sie war auch eine Praktikantin.“ Valérie nickt ungeduldig. Man sieht ihr an, wie sie begeistert einen Plan ausheckt.
„Mama, ich habe doch Ferien. Kann ich hier im Restaurant so ein Praktikum machen?“ Gespannt wendet sich mein Blick Elle zu. Ich kann es nicht leugnen: unerklärlicherweise reizt mich die Aussicht, die Zimtzicke öfter zu sehen.
Deren Lippen öffnen sich, und an ihrem Stirnrunzeln kann ich erkennen, wie Elle fieberhaft an einer Ausrede feilt, wie sie den Wunsch ihrer Tochter ablehnen soll.
„Bitte, bitte, Mama. Du sagst immer, ich soll etwas Sinnvolles machen. Und das ist es doch!“
Die kreisrunden Augen von Valérie sind herzzerreißend und das Mädchen zieht einen entzückenden Schmollmund. Ein gerissenes Biest, kann ich gerade noch denken, bevor ich aus einem unerfindlichen Grund beim Anblick dieses Welpenblicks wie Wachs in der Sonne schmelze. Elle scheint es ähnlich zu gehen. Ihr Mund schließt sich und der ratlose Blick weicht einem milden Ausdruck. Ihre Hand fährt sich über die Stirn, wie um die Trance wegzuwischen.
„Dafür hat Christiane sicherlich keine Zeit, Valérie. Und wolltest du nicht mit Marnie ins Resort fahren?“
„Aber Christiane hat es vorgeschlagen. Sie hat gefragt, ob ich in den Ferien nicht schnuppern möchte, wie so ein Restaurant läuft. Und mit Marnie habe ich mich sowieso verkracht.“
„Verkracht? Aber ihr seid beste Freundinnen und werdet euch sicher wieder vertragen.“ Ein Schatten huscht über Valéries Gesicht. Sie murmelt etwas, das stark nach „Die kann mich mal“ klingt. Elle legt zwei Finger an die Nasenwurzel und schließt kurz die Augen. Die Situation überrumpelt sie offenbar.
Valérie nutzt den Moment der Schwäche aus.
„Danke, Mama. Ich wusste, du erlaubst das. Das ist ja so cool!“ Sie dreht sich zu Christiane um, die gerade aus der Personaltür kommt.
„Mama hat´s erlaubt“ Elle hebt jäh den Kopf.
„Aber das ist ja wunderbar. Es ist für mich eine große Freude, Ihre reizende Tochter hier zu haben. Dann kannst du gleich morgen anfangen und schauen, ob es dir gefällt. Ah, da kommt euer Essen. Ich lasse euch jetzt in Ruhe und nachher zeige ich dir alles.“ Valérie meidet den Blick ihrer Mutter und nimmt Platz. Wieder und wieder streicht sie begeistert über die Dirndlschürze.
Meine Kollegin Mona nähert sich mit einem voll beladenen Tablett. Der Chinese folgt dicht hinter ihr und ist in den Schwung ihrer ausladenden Hüften versunken. Sie erkennt mich und zwinkert mir zu. Hastig erhebe ich mich und greife nach der Jacke. Wenn ich an die bevorstehende Schicht denke, die ich ausgerechnet mit Mona verbringen soll, kehrt schlagartig meine schlechte Laune zurück. Ich registriere, wie sie einen grünen Salat vor Elle abstellt. Echt jetzt? Die Tussi ist in Schmankerl-Schlaraffenland und bestellt Salat? Kein Wunder, dass sie so schmal und schlecht drauf ist.
Elle hat wohl bemerkt, wie ich ihren Salat angaffe und ihr scharfer Blick ist einer dieser Art, die töten können. Bei mir hat er jedoch den gegenteiligen Effekt. Mir wird heiß und unvermittelt bricht mir der Schweiß aus. Eine kalte Dusche, aber schnell!
„Na dann, guten Appetit allerseits. Lassen Sie sich die deutschen Spezialitäten schmecken.“ Die Runde nickt freundlich. Nur Elle hat meine imaginären Gänsefüße registriert. Ihre Gabel stoppt auf halbem Weg zum Mund und ihre Nase kräuselt sich wieder. Am liebsten gäbe ich mir selbst High-Five. Zu gerne sähe ich ihre Augen noch einmal, aber ihr Blick bleibt stur auf ihren Teller gerichtet. Ich wende mich ab. Als sich die Personaltür neben der Bar hinter mir schließt, meine ich Elles brennenden Blick auf meinem Rücken zu spüren. In der Umkleide schäle ich mich aus der dicken Seemannskluft und nach einer kurzen Dusche, von der ich kaum etwas mitbekomme, so sehr bin ich in Gedanken versunken, kann ich wieder klar denken.
Was ist heute nur los mit mir?
Ich arbeite schlicht zu viel und es ist einfach nicht mein Tag. Wie sollte es an diesem Datum auch anders sein?
BABE IN GERMANY
ELLE
Versunken starre ich auf das Foto auf dem Schreibtisch, das meine Tochter Valérie im zarten Alter von vier Jahren zeigt. Das Kind strahlt in die Kamera. Ich habe mal gelesen, ein Kind freut sich im Schnitt vierzig mal am Tag, meistens über Kleinigkeiten. Und so ist es bei Valérie tatsächlich gewesen. Sie war meine Sonne. Damals. Meine Gedanken trüben sich, wenn ich an meine antriebslose Teenagertochter denke, die mich aus ihrem Leben ausschließt und jede meiner Zärtlichkeiten abblockt. Die genervt die Zimmertür zuknallt, nur weil ich es gewagt habe zu fragen, wie der Schultag war oder ob sie sich nicht mal wieder mit ihren Freundinnen Marnie und Joanna treffen will. Die lustlos im Essen herumstochert, wenn sie überhaupt zum Essen kommt, statt fernzusehen und mit neu entwickeltem Sarkasmus