Das ungetrübte Glück und Vertrauen in das Leben, das dieses Foto von Valérie ausstrahlt, hat mich in der Vergangenheit unbändig motiviert, wenn ich selbst an einem Tiefpunkt war. Und davon hat es einige gegeben. Aber ich kann mit Stolz von mir behaupten, alle Tränentäler aus eigener Kraft überwunden zu haben. Und so wäre es auch diesmal: Ich werde den aktuellen finanziellen Engpass mit Hilfe eines Investors überstehen. Auch wenn dieser grantige Alexander fast alles boykottiert hat, war der Tag gestern mit Mister Chang ein gelungener Auftakt. Wir haben uns heute im Büro verabredet, um das Geschäftliche zu bereden. Dieser grantige Alexander ... unweigerlich erhöht sich mein Pulsschlag und ich denke an die bläulichen Symbole auf seinem Unterarm. Eigentlich stehe ich nicht auf Tattoos. Zumindest habe ich das bis gestern gedacht. Doch seine Körperbemalung hat mich fasziniert. Rein aus künstlerischen Aspekten, versteht sich. Blaue Wellen und Muster, Flossen eines japanischen Karpfens, die sich um seinen sehnigen Unterarm winden. Ich habe den Drang verspürt, mich vorzuneigen und den Ärmel des Seemannspullis hochzuschieben, um das Bild in seiner Gänze betrachten zu können. Genau in dem Moment ertappte er mich beim Gaffen und sein wissender Blick verschlug mir für einen Moment den Atem. Mir wurde heiß und das wurde nicht besser, als ich mich später mit ihm allein am Tisch befand. Er hat eine dominante Ausstrahlung, die mich völlig aus der Fassung bringt. Er ...
Jills Klopfen reißt mich aus den Gedanken.
„Herein.“ Jill öffnet die Tür und betritt hinter Mister Chang den Raum.
Ich erhebe mich und begrüße den chinesischen Investor.
„Mister Chang, ich hoffe, Sie hatten eine erholsame Nacht?“ Mister Chang nickt lächelnd.
„Kommen Sie bitte, ich zeige Ihnen unsere Werkstätten. Jill, meine Assistentin, haben Sie ja bereits kennengelernt.“ Ich deute auf die ältere gepflegte Dame, die Mister Chang empfangen hat. Wie immer ist Jill wie aus dem Ei gepellt. Heute trägt sie eine weite weiße Seidenbluse kombiniert mit schwarzer Marlenehose. Klassischer geht es kaum. Jill liebt den Stil von Coco Chanel und ich bin stets versucht, ihr eine langstielige Zigarettenspitze als Accessoire zu verpassen.
„Jill ist mit mir die wichtigste Person hier. Ohne ihre Zustimmung läuft nichts.“ Mister Chang betrachtet Jill so intensiv, dass diese verlegen den Blick abwendet und mit der Hand nervös über ihren grauen Pagenschnitt fährt. Wir betreten den Entwurfsraum. An den Wänden hängen großformatige Fotos von Highlights vorangegangener Kollektionen. Zwei ausladende Schreibtische mit hochgebockter Arbeitsfläche dominieren das weiß gehaltene, hohe Zimmer. Durch die Fabrikfenster hat man einen wunderbaren Blick auf einen baumbestandenen Hinterhof. Meine Firma liegt in einem Fabrikgebäude aus den Zwanzigerjahren im angesagten Quartier Gastown, dem historischen Stadtkern Vancouvers. In unmittelbarer Umgebung sind Shops und Cafés angesiedelt, aber auch viele Designer, Werbeagenturen und Fotografen haben sich in dem Stadtviertel niedergelassen. Die Atmosphäre, fern der Hektik einer Großstadt, ist unschlagbar inspirierend. Ich liebe es, den Lunch in einem der kleinen Lokale zu verbringen. Dieses Quäntchen an europäischem Flair genügt mir völlig, um die eventuelle Sehnsucht nach dem fernen Kontinent zu stillen. Ganz in der Nähe befindet sich die berühmte Steamclock, eine mit Dampf betriebene Uhr, die alle Viertelstunde eine Melodie spielt und von Touristen unzählige Male am Tag abgelichtet wird.
Ohne Jill, die eine enge Freundin meiner Mutter ist und dieser versprochen hat, auf mich ein Auge zu haben, hätte ich es niemals geschafft, die heruntergekommene Fabriketage zu dem zu machen, was sie heute ist. Mittlerweile ist Jill zu meiner engsten Vertrauten und besten Freundin avanciert.
Mister Chang scheint ebenfalls vom Charme des Ateliers bezaubert. Er nickt in einem fort. Bereits gestern habe ich bemerkt, das ist ein untrügliches Zeichen seines Wohlwollens. An der rechten Wand stehen Regale mit Stoffen und Kisten, in denen Knöpfe, Bänder und andere Kurzwaren auf ihren Einsatz warten. Links davon öffne ich eine schmale Tür. Das geschäftige Rattern der Nähmaschinen empfängt uns. Ich hebe meine Stimme.
„Dies hier ist unsere Manufaktur, wie Jill sie getauft hat. Wie ich Ihnen gestern bereits erzählt habe, legen wir Wert auf unser handwerkliches Image. Daher auch der Name des Labels Babe in Germany, in Anlehnung an das Qualitätsimage deutscher Wertarbeit.“ An zehn Tischen setzen eifrige Näherinnen die von mir und Jill skizzierten Entwürfe zu Prototypen um.
„Zur Zeit wird hier alles für die Schau in gut drei Wochen vorbereitet.“ Ich gehe zu einer der Näherinnen und hebe ein halbfertiges Abendkleid in die Höhe, dessen cremefarbener Seidenrock bis zur Hälfte mit kleinen schwarzen Glitzersteinen besetzt ist. Freundlich nicke ich meiner Angestellten zu und bedanke mich.
„Wenn die Einzelstücke dann nach den notwendigen Verbesserungen und Änderungen ihre Endfassung gefunden haben und auf der Präsentation Anklang finden, beginnt die Massenproduktion. In Stoßzeiten, wenn wir zum Beispiel bei hohen Bestellungen nach der Schau einen bestimmten Look selbst produzieren, kann der Raum auf bis zu zwanzig Nähtische aufgestockt werden.“ Ich deute auf eine Nische, in der zusammengeklappte Tisch lagern. Zufrieden registriere ich, wie Mister Chang mehrfach kurz nickt.
„Natürlich wird die Ware nicht in Deutschland hergestellt. Aber wir beziehen viele unserer Stoffe von dort. Und, wie gesagt, sind sowohl ich als auch Jill aus Deutschland, sodass wir mit diesem Image überzeugend auftreten.“
Der Rundgang schließt in dem geräumigen Foyer ab.
„Hier findet die jeweilige Präsentation unserer Kollektion statt. Der Raum bietet sich dafür hervorragend an.“ Stolz betrachte ich die weißgetünchte hohe Decke, mit den fabriktypischen Ziegelbögen, die durch Strahler dezent ausgeleuchtet wird.
„Das Foyer bietet locker Platz für einen Laufsteg und etwa einhundert Besucherstühle. Hier wird auch die Schau der neuen Kollektion stattfinden.“
Mittlerweile sind wir wieder im Büro angelangt und Kitty serviert grünen Tee – selbstverständlich aus dem Hause Chang.
Während wir das heiße Getränk schlürfen, gehen wir durch die Zahlen. Als Mister Chang minutenlang in der Bilanz der Vorjahre versinkt und keine Miene verzieht, beiße ich mir vor Ungeduld in die Lippe. Es fällt mir schwer, still zu sein und nicht alles zu erläutern. Zu gerne behalte ich die Kontrolle. Das gibt mir Sicherheit. Ein ums andere Mal legt Jill beruhigend ihre Hand auf meinen Unterarm und lächelt mich zuversichtlich an.
Mister Chang legt die Akte zur Seite und blickt eine Weile stumm auf den geschlossenen Aktendeckel.
Mit Mühe unterdrücke ich ein nervöses Räuspern.
„Miss Sommerfeld. Ich habe nachgedacht.“
„Ach ... ja?“
„Ja, ich muss sagen, der Ausflug in dieses Hafenrestaurant hat mich inspiriert. Das war eine sehr gute Idee von Ihnen. Ich hebe abwartend die Brauen und mache innerlich drei Kreuze, weil uns das Schicksal in das deutsche Restaurant geführt hat.
„Eine Idee hat mir heute Nacht keine Ruhe gelassen. Was spricht dagegen, ihre Kollektion um Dilden für Schwangere zu erweitern?“
Kontrolliert atme ich aus. Wie bitte? Dilden? Was um alles in der Welt ...? Die einzige Assoziation zu dem mir unbekannten Begriff, die mir in den Sinn kommt, wäre die Mehrzahl von Dildo. Denkt Mister Chang, ich stelle Sextoys her? Für Schwangere? Unsicher blicke ich zu Jill, ob ich mich verhört habe. Jill steht ebenfalls leicht irritiert der Mund offen. Und Jill verliert selten die Contenance.
„Mister Chang. Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen?“, frage ich behutsam. Mister Chang scheint von seinem Vorschlag hellauf begeistert. Ungeduldig runzelt er die Stirn.
„Na, Dilden.“
„Ähm?“
„Diese Kleider, die die Bedienungen gestern in dem