»In diesem Leben? Wie kommst du im Jetzt an den Gegenstand?« Er sah zu Labhruinn. Jedoch, der war nicht mehr. Er wartete in der Anderwelt, auf die Erneuerung. Traurig und ratlos kniete Kendric neben Labhruinn. Jetzt lag es an ihm, herauszufinden, welches Geheimnis die Scheibe barg.
Er rief den Stamm zusammen und leitete die Feierlichkeiten zur zeremoniellen Bestattung Labhruinns ein. Ihm blieb nicht viel zu tun. Die Vorbereitungen des alten Druide für den Übergang ließen ihn ahnen, wie er das Ende herbeisehnte. Es muss ihm sehr schlecht gegangen sein. Neben dem geschichteten Holz für das Feuer und dem darauf gerichteten Ruheplatz, lagen die Dinge bereit, die er in der Anderwelt benötigte und die man dem Grab beigeben würde.
Kurze Zeit später loderten hell die Flammen in den Himmel. Der tote Körper zuckte noch einmal hoch, ein Arm schnellte hoch, wie ein mahnendes Zeichen, um dann im Feuer zu vergehen. Die Asche des alten Druiden wurde sorgfältig und rituell in ein irdenes Gefäß gefüllt und verschlossen. Die Bestattung der Amphore nahm Kendric, gemäß dem Brauch, allein vor. Kurze Zeit später stand er vor dem Feenhügel, an dem Platz, den Labhruinn vor langer Zeit bestimmte. Die rituellen Worte gingen ihm nicht so richtig über die Lippen. Lange noch hielt er Zwiesprache mit dem Verschiedenen. Auf die Fragen erhielt er jedoch keine Antwort mehr.
So schnell es die Schicklichkeit erlaubte, trat er den Rückweg an. Die Unruhe, die er schon bei der Abreise in der neuen Heimat spürte, wurde stärker und beschleunigte den Schritt, bis er fast lief. Lange zog sich der Weg. Die Gedanken spielten verrückt und gaukelten ihm Bilder vor, die er nicht sehen mochte. Wusste er doch um die besonderen Gaben der Druiden, dass Ahnungen sich oft genug erfüllten. Er reiste Tag und Nacht, um das drohende Unheil abzuwenden. Schließlich hatte er das Ziel vor Augen. Je näher er kam, desto mehr wehte ihm Brandgeruch entgegen. Die bange Ahnung wurde zur Gewissheit.
*
neun
Der Mazda tuckerte zuverlässig wie ein Traktormotor auf dem Weg nach Süden. Paul saß entspannt hinter dem Steuer und Griet kuschelte auf der Beifahrerseite gegen die Tür.
Vorgestern besuchten sie noch einmal Arget, auf seinen besonderen Wunsch hin, der sie auf eine neue Spur in Frankreich brachte. Als sie sich dem Hügel näherten, stand er vor der Kate und winkte sie herein.
»Nach Stunden mit eurer Scheibe muss ich gestehen, dass ich nicht viel weiter bin als zuvor. Mir gelang es, die Zeichen zu ordnen, was sie bedeuten, liegt jedoch in den Sternen.«
»Schade«, bemerkte Paul. »Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt.«
»Es gibt noch mehrere Möglichkeiten.« Argets schmunzelte. Es sah fürchterlich aus, besaß jedoch einen gewissen Charme. »In meinen Fundus fand ich diese Originaldokumente.« Er schob einen vergilbten Packen Pergamentpapiere zu ihnen rüber. »Dazu gibt es diese Kopien. Die Originale halte ich hier bei mir. Ihr solltet sie jedoch sehen.«
Ehrfürchtig langte Griet nach den Bogen. Sie fühlte dickes Papier, fast wie eine Lederhaut. Die Ränder bogen sich und fransten aus. Lange betrachtete sie die darauf vorhandenen Zeichen. Paul nahm ihr den Bogen mit spitzen Fingern aus der Hand.
»Ich hielt noch nie ein Papyrus in den Händen. Es ist doch eines?«
»Ja sicherlich«, entgegnete Griet.
»Wie wurde das hergestellt. Unvorstellbar, dass die Ägypter schon in der Antike Schriftrollen herstellten. Hier gab es Papier erst im 14. Jahrhundert.«
»Das Mark der Pflanzenstängel wurde in drei bis fünf Zentimeter breite Streifen geschnitten und eingeweicht. Diese wurden knapp überlappend zusammengelegt, darüber in entgegengesetzter Richtung weitere Fasern geschichtet, also kreuzweise, und zu einem Bogen gepresst oder geklopft«, erwiderte Griet kurz und unkonzentriert.
»Wahnsinn«, brachte Paul heraus. Griet nahm ihm das Dokument wieder aus der Hand.
»Mein Gott. Diese Dokumente müssen ja uralt sein. Ich habe schon einiges gesehen, so etwas noch nicht. Sind das die gleichen Zeichen, wie auf der Scheibe?«, fragte sie erwartungsvoll.
»Ich vermute, sie wurden vor der christlichen Zeitrechnung gefertigt. Ja, wenn auch nicht ganz gleich, doch sehr, sehr ähnlich. Ich erkenne ein System darin. Wie vermutet sind sie verschlüsselt. Aber auch den Code haben wir geknackt. Nur, es gibt keine sinnvolle Übersetzung. Vielleicht unterliegen sie einer weiteren Verschlüsselung. Im Zweiten Weltkrieg bedienten sich die Krieg führenden Nationen der keltischen Verschlüsselungsmethoden.«
»Lass mal sehen.« Paul langte hinüber. Die Kopie hätte für ihn genauso gut chinesisch sein können. Hieroglyphen, Runen oder was sonst noch für Krakel verwischten vor seinen Augen. Rote und blaue Linien umkreisten die Symbole. Ordnungshinweise setzten sie in eine bestimmte Folge.
»Das ist Kyras Werk. Ihr gelingt so etwas aus dem Effeff und sie benötigt keine dicken Bücher. Seid euch sicher, dass die Anordnung so ist«, sagte er zu Paul und tippte mit den unförmigen Fingern auf das Papier. »Und jetzt wird es spannend. Es geht um einen Druiden, der ungefähr 300 vor Christus, plus, minus fünfzig Jahre lebte. Sein Name ist Kendric. Es muss etwas Fürchterliches passiert sein. Sehr viele Angaben gibt es nicht. Er machte sich auf den Weg nach Rom. Die Reiseroute vollzogen wir bis zu einem Punkt in Südfrankreich nach.«
»Du hast doch gesagt, dass du zu den Zeichen nichts sagen kannst. Und jetzt das.« Griet beugte sich nach vorn, als wolle sie ihn hypnotisieren.
»Du hast nicht zugehört.« Arget legte ihr die Hand auf die Schulter. Wie ein Stromschlag durchzuckte es sie. Die Ahnung, die sie bisher hatte, schien nicht zu trügen. Ihre Haut kribbelte und Gänsehaut zog von den Fußspitzen bis zum Kopf. Hier geschah etwas, das sie nicht fassen konnte. »Ich hatte von der Scheibe gesprochen«, fuhr Arget fort. »Diese Dokumente und auch noch andere haben wir schon etwas länger. Kyra und ich interessieren uns für Geschichte und sammeln alles, was uns unter die Finger kommt. Wir haben viele Stunden über solchen Papieren gebrütet. Aber noch einmal zu Kendric. Er ist von hier, genau von diesem Ort, an dem wir uns jetzt befinden, nach Frankreich, über das Zentralmassiv, entlang der Rhône zum Mittelmeer gezogen. Von dort, wahrscheinlich nach Marseille und mit einem Schiff nach Rom. Die Reise dauerte viele Jahre. Im Süden Frankreichs legte er einen längeren Aufenthalt ein. Auf diesem Weg könnten möglicherweise Hinweise, zu finden sein.«
»Du sagtest doch, du kannst die Zeichen nicht entziffern? Woher diese Informationen?« Paul beäugte ihn misstrauisch an.
»Es ist richtig. Ich habe noch andere Quellen. Nachdem ich den Namen des Druiden, also Kendric, wusste, flossen die Informationen zusammen. Hier ist so weit alles, was ich in der kurzen Zeit ermitteln konnte«, er hielt Griet einen weiteren Packen Papier hin.
»Was sollen wir tun? Was empfiehlst du uns?«, fragte Griet.
»Schaut euch erst die Quellen an. Dann müsst ihr selbst entscheiden, was ihr wollt. Ich persönlich würde versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Euer Leben wurde bedroht und ich glaube nicht, dass es vorbei ist.«
»Da magst du recht haben.« Paul strich die Haare aus dem Gesicht, hinter dem es arbeitete. »Griet und ich haben uns schon die Köpfe zermartert, was wohl der Anlass für die blödsinnigen Angriffe ist. Ja, ja. Die Scheibe. Schon richtig. Aber, das ist doch nur Silber. So viel gibt es auch nicht dafür.«
»Hast du nichts gespürt, als du die Scheibe in die Hände nahmst?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Aber du Griet?«, fragte Arget.
»Ja. Energie strömte auf mich über. Ich kann es nicht anders sagen. Ein Kribbeln in den Fingern und Gänsehaut. Nicht unangenehm, aber unheimlich.«
»Bei mir nicht. Für mich ist das ein Gegenstand wie jeder andere. Na ja. Nicht ganz. Er ist halt alt. Täuschst du dich nicht?«
»Nein, nein. Da ist etwas«, antwortete Griet nachdrücklich.
Sie dankten Arget und brüteten in Pauls Arbeitszimmer weiter über den ihnen überlassenen Papieren.