Die äußere Wirklichkeit umhüllte mich. Ich musste an Gelatine denken. Es war, wie wenn ich in einer zähen, durchsichtigen Flüssigkeit steckte, die mich am Denken hinderte. Es ängstigte mich, dass ich diesen Zustand in letzter Zeit ein paar Mal erlebt hatte, in immer kürzeren Abständen. Dieses Mal musste ich bis zur Abfahrt Bad Homburg fahren. Ich verließ die Autobahn, fuhr aber nicht zurück. Ich wollte jetzt nicht ins Büro. Ich konnte sie jetzt nicht ertragen, diese Menschen, die mich so anödeten. Mir war fast schlecht bei dem Gedanken, jetzt mit jemandem sprechen zu müssen. Es war dasselbe Gefühl, das sich früher an der Uni vor manchen Seminaren eingestellt hatte.
Ich wollte mit mir allein sein, keine Ansprüche erfüllen müssen. Ich ließ Bad Homburg hinter mir und folgte der Straße in den Taunus. Es herrschte strahlender Sonnenschein. Als ich mich Usingen näherte, fiel mir Jennifer ein. Während meines Studiums entdeckte ich eines Tages plötzlich in einer Übung zum Thema essay writing, dass sich eine Frau für mich interessierte. Sie saß einfach neben mir. Wenn sie mit mir sprach, berührte sie meinen Arm, merkte sich sehr schnell meinen Vornamen. Sie war nicht sehr groß, sehr schlank, kleine Brüste. Manchmal schaute sie mich verträumt an. Etwas in ihrem Blick signalisierte eine unendliche Traurigkeit. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Dieser Blick ließ mich Distanz halten. Da war etwas Fremdes, Unheimliches.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich feststellte, dass auch ihre Schwester an der Übung teilnahm. Sie richtete mir eines Morgens aus, dass Jennifer heute nicht kommen könne. Ich war überrascht, weil mir klar wurde, dass sich beide mit mir beschäftigten. Wir kannten uns ja nur vom Sehen und von den paar Gesprächen, die wir während der Übung geführt hatten. Von da an beschäftigte auch sie mich. Ich war verwirrt. Eine schöne Frau, eine von denen, an die ich mich normalerweise nicht herantraute, zeigte unverhohlen Interesse an mir, das war ich nicht gewohnt. Ich wurde befangen. Vor der nächsten Sitzung fürchtete ich mich fast. Wie sollte ich das angehen? Ich war völlig ratlos. Gleichzeitig faszinierte mich die Situation. Ich hatte Fluchtgedanken. Letztlich entschied ich mich hinzugehen.
Es war anders. Wir begrüßten uns zaghaft. Ich hatte den starken Wunsch, sie zu küssen. Erst redeten wir nichts, folgten dem, was in der Übung abgehandelt wurde. Dann fragte sie plötzlich, ob ich Freitagnachmittag schon etwas vorhätte. Als ich verneinte, fragte sie, ob ich Lust hätte, mit ihr zu einer Literaturlesung in die evangelische Studentengemeinde zu gehen. Panik verleitete mich dazu, nun doch einen Termin vorzuschieben, den ich vergessen hätte. Sie sah sehr enttäuscht aus. Ich fühlte mich erleichtert. Ich war wieder einer Falle entkommen. Wir verabschiedeten uns recht kühl nach der Übung. Die Erleichterung wich einem Gefühl von verpasster Gelegenheit. Ein seltsamer Zwiespalt tat sich auf.
Zu Hause kam ich ins Grübeln. Ich sprach mit der Frau darüber, mit der ich zusammen wohnte, der späteren Mutter meiner Kinder. Sie schien desinteressiert. Je näher der Freitag kam, umso unruhiger wurde ich. Ich ging dann doch zu dieser Veranstaltung. Schon am Eingang sah ich sie mit einem anderen Mann. Sie sah mich, wir blickten uns kurz an, dann ging ich. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen, ich hatte meine Chance gehabt.
Wir verloren uns aus den Augen, das heißt sie war plötzlich nicht mehr da. Von einem Freund, der sie und ihre Schwester kannte, erfuhr ich, dass sie für ein Auslandssemester nach Schottland gegangen war. Es war schön mir einzureden, dass sie wegen mir gegangen war, weil sie mich nicht mehr treffen wollte.
Ein halbes Jahr später traf ich sie wieder. Es war in einer Vorlesung über Kleist. Ich setzte mich in eine dieser endlos langen, aufsteigenden Reihen in einem dieser schrecklichen Hörsäle. Als ich saß, entdeckte ich sie neben mir. Es war, als hätten wir uns immer schon gekannt, als hätte es dieses halbe Jahr Unterbrechung nicht gegeben. Wir trafen uns fast ein Semester lang, zweimal die Woche bei Kleist, sprachen über Literatur, Politik und alles Mögliche, nie über uns. Wir verließen meist noch zusammen das Philosophikum, sprachen gelegentlich noch auf dem Parkplatz miteinander, trennten uns dann. Es gab weder von mir noch von ihr einen Versuch, außerhalb der Uni etwas gemeinsam zu unternehmen. Die letzten paar Male fiel mir auf, dass sie beim Sprechen durch mich hindurch schaute. Es war, als sähe sie etwas irgendwo hinter mir, was sie anzog, was sie aber gleichzeitig bedrohte. Kurz vor Ende des Semesters erschien sie nicht mehr zu der Vorlesung. Da ich ihre Schwester auch nicht mehr traf, konnte ich nichts über sie herausfinden. Sehr viel später erzählte mir ein Freund, dass sie mit einem Mann, einem Rechtsanwalt, nach Fulda gezogen war und sich kurz darauf aus dem Leben verabschiedet hatte.
Ich fuhr durch Usingen, dann in Richtung Erdefunkstelle. Auf dem großen Parkplatz stieg ich aus, zündete mir eine Zigarette an und lief einfach los. Ich fühlte mich verlassen. Es nagte wieder in mir. Mir war klar, dass ich eine Entscheidung treffen musste, um aus diesem Zustand, der mich allmählich zugrunde richtete, herauszukommen. Mir war allerdings noch keineswegs klar, was und wie ich zu entscheiden hatte.
Ich versuchte eine Bestandsaufnahme: Ich hatte eine Frau, die mich nicht liebte; zwei Kinder, die anstrengend waren; so anstrengend, dass es manchmal über meine Kraft ging; einen Job, der mich anödete; einen Chef, der inkompetent, ignorant und launisch war; gelegentlich eine Affäre, die einen schalen Geschmack hinterließ. Insgesamt nicht viel, was das Leben lebenswert machte. Familie verlassen, Job hinschmeißen, das fühlte sich verlockend an. Ein Hauch von Freiheit streifte mich bei dem Gedanken.
Ich hatte mich am Waldrand auf eine Bank gesetzt. Eine ganze Weile saß ich dort mit übergeschlagenen Beinen und schwelgte in der Vorstellung, wie es wäre, wieder frei zu sein. Es blieb nicht aus, dass ich an Patrizia dachte. Und es tat nicht mehr weh.
Die Erfahrung mit Patrizia war ein Symptom gewesen. Sie hatte mir gezeigt, dass ich immer noch in der Lage war, mich bedingungslos an einen anderen Menschen zu binden. Sie hatte mir aber auch gezeigt, wie gefährlich es für mich war, weil ich leicht den Boden unter den Füßen verlor, wenn es nicht so lief, wie ich es mir ausgemalt hatte.
Immerhin musste ich ihr für diese Erfahrung dankbar sein. Ich hätte es ihr gerne persönlich gesagt. Einmal hatte ich einen Versuch per eMail gemacht. Ich war durch einen eigenartigen Zufall an ihre eMail-Adresse geraten. Sie hatte auf einer Auktionsseite ein Musikinstrument zum Verkauf angeboten. Ich schrieb unter einer Fake-Adresse, die ich für meinen Job benutzte, dass wir uns kennen würden, dass wir uns vor einiger Zeit sehr nahe gekommen seien, dass ich aber, weil ich nicht wüsste, wer ihre eMails läse, nicht unter meinem richtigen Namen schreiben wolle. Sie möge mir bitte antworten, weil ich ihr etwas Wichtiges zu sagen hätte. Sie hat mir nicht geantwortet. Ich legte es mir so zurecht, dass sie wohl die eMail-Adresse gewechselt hatte. Mein Wunschdenken war gar nicht so unwahrscheinlich, weil sie wenig später ihre Adresse wechselte, wie ich dem Telefonbuch entnahm. Ich machte danach keinen Versuch mehr, beobachtete aber weiter per Telefonbuch ihre Ortsveränderungen. Mittlerweile schien sie sich von ihrem Mann getrennt zu haben. Seine Telefonnummer tauchte irgendwann an einem anderen Ort auf. Ihre eigene war irgendwann nicht mehr zu finden.
Ich zündete mir noch eine Zigarette an. Mir wurde beim ersten Zug schwindelig. Ich machte die Zigarette aus und legte mich lang auf die Bank und schlief ein. Ich träumte wirr. Ein Mann mit einem langen Messer rannte in einer Einkaufsstraße hinter mir her. Ich versuchte ihm zu entkommen, sah mich aber ständig über die Schulter um. Sein Messer hatte sich in ein Samurai-Schwert verwandelt. Damit fuchtelte er in der Luft herum. Als er ganz dicht hinter mir war, wachte ich auf. Es war kühler geworden. Ich fröstelte und hatte Hunger. Ich ging zurück zu meinem Auto und fuhr nach Butzbach, wo ich im Zentrum ein Restaurant kannte. Es gab dort ein echtes Wiener Schnitzel vom Kalb. Weil ich in den Feierabendverkehr geraten war, dauerte es eine Ewigkeit, bis ich aus dem Taunus heraus war.
Als ich mein Auto in Butzbach parkte, war es fast dunkel geworden. Ich betrat das Lokal und fand es wie immer sehr heimelig. Ich war vor Jahren mal mit meinem schwierigen Freund Ralf hier gewesen. Der Schauspieler Alexander Kerst, den ich sehr mochte, hatte am Nebentisch gesessen. Es waren nicht viele Gäste da,